Documenta Kabul:Krieg schafft Fakten - Kunst auch

In den Gärten der Königinnen: Einer der internationalen Ausstellungsorte der Documenta befindet sich in Kabul. Der Rundgang durch die dortige Kunstschau erinnert daran, was zeitgenössische Kunst einst für den Wiederaufbau Deutschlands bedeutete.

Tim Neshitov

Das Anliegen von Carolyn Christov-Bakargiev in Kabul leuchtet ein. Die Documenta soll den Afghanen helfen, ihr Land wieder aufzubauen, so wie sie einst den Deutschen half. "Krieg schafft Fakten", sagt die Kuratorin, "aber Kunst schafft auch Fakten und spielt eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Aufbau durch die Vorstellungskraft." Aber welche Fakten schafft diese Kunst?

Documenta Kabul: Blick auf die Babur-Gärten, in denen die Documenta Kabul untergebracht ist.

Blick auf die Babur-Gärten, in denen die Documenta Kabul untergebracht ist.

(Foto: AFP)

Die Ausstellung ist im Königinnenpalast und den anliegenden Babur-Gärten im Süden von Kabul untergebracht, einem angesagten Ausflugsort. Der Eintritt für afghanische Besucher kostet 10 Afghanis, umgerechnet 16 Cent. Im Garten steht eine Installation des italienischen Künstlers Giuseppe Penone. Sie besteht aus einer schief abgestützten Marmorsäule, die mit einem Ende am Boden ruht und mit dem anderen fast einen jungen Baum berührt. Das Werk heißt "Radici die pietra" (Baumwurzeln).

Der Baum wird wachsen und irgendwann auf die Säule treffen und dann, so will es der Künstler, wird die Natur mit dem Stein "verhandeln" müssen. Das Werk soll auf eine andere Skulptur Penones auf der Haupt-Documenta in Kassel verweisen, "Idee di pietra", einen blattlosen Baum aus Bronze, in dessen Äste ein Stück Granit eingelassen ist. Die Kassler Skulptur beruft sich wiederum auf Joseph Beuys Pflanzaktion "700 Eichen" aus dem Jahr 1982.

Vor "Radici di pietra" stehen zwei Rentner, Too Takheil, 70, und sein Freund Dschuma Gul, 60, ehemals Angestellte der afghanischen Nationalbank. Sie tragen beide weiße peran tumban, die traditionelle Kleidung der Paschtunen, lockere Hosen und lange, von der Hüfte abwärts geschlitzte Hemden. "Wir sind glücklich, das zu sehen", sagt Too Takheil. "Jeder Afghane ist glücklich, das zu sehen", sagt Dschuma Gul. Sie zeigen nicht auf die Skulptur, sondern auf den gepflegten Garten, den die Agha-Khan-Stiftung nach dem Krieg wieder aufgerichtet hat. "In unserer Jugend kamen wir öfter hierher, hier wurden Hochzeiten gefeiert. Hier standen alte Bäume und Hochzeitspaare ritzten das Alter der Bäume in die Rinden: 250 Jahre."

Fremde Dinge in kühlen Räumen

Welches Kunstwerk hat ihnen am besten gefallen? "Der Raum da", sagt Dschuma Gul und zeigt auf einen Flügel des Königinnenpalastes. In dem Raum ist eine Installation der britischen Künstlerin Tacita Dean zu sehen, sie hat Postkarten mit Kassler Ansichten vor 1941 mit heutigen Motiven bemalt. "Der Raum ist angenehm kühl", sagt Dschuma Gul. "Und der Raum mit dem schönen Balkon gefällt mir auch."

Im gegenüberliegenden Flügel bleiben die Rentner lange vor einem Panoramateppich der polnischen Künstlerin Goshka Macuga stehen. Es ist eine Fotocollage mit Aufnahmen von zwei Veranstaltungen - der Arnold-Bode-Preisverleihung in Kassel und einem Empfang in den Babur-Gärten. Too Takheil hört sich die Ausführungen des afghanischen Guides an, zeigt mit seiner Gebetskette auf den Teppich und fragt: "Ja, aber warum haben sie dieses fremde Ding da hingestellt?"

Gespräche zwischen Boot und Palast

Mardan Muhammadi, 21, studiert an der Fakultät der Schönen Künste im ersten Semester. Auf Documenta-Seminaren im Frühjahr wurde er als Guide ausgebildet und stellt den Besuchern ein Werk des argentinischen Künstlers Adrian Villar Rojas vor, eine Lehmmauer, die an die traditionelle afghanische Bauweise erinnern soll. Die Lehmmauer steht zwischen zwei Flügeln des Königinnenpalastes, und Mardan Muhammadi erklärt von 8 Uhr 30 bis 16 Uhr 30, dass es um "den Umgang mit Grenzen" gehe und dass Altes hier wie Neues aussehe.

Er bekommt dafür 600 Afghanis am Tag, knapp zehn Euro. Sein Vater ist Schneider, seine Mutter kann weder lesen noch schreiben. Sie sind Hazaras, eine schiitische Volksgruppe, die unter den Taliban besonders gelitten hat. Er trägt eine ausgewaschene Anzugshose, eine rote Baseballkappe und eine feierliche grüne Kordel, auf der "Documenta" steht.

Villar Rojas stellt auch in Kassel aus, und damit ein "Link" zu seinem Werk dort entsteht, muss Mardan Muhammadi täglich Skizzen des Künstlers nachzeichnen. Dafür war ein in die Lehmmauer eingelassener Tisch vorgesehen, allerdings ohne Sonnenschirm, deswegen flüchtet sich Mardan Muhammadi unter einen Busch, wenn keine Besucher da sind. Da zeichnete er eine Zeitlang Villar Rojas' Skizzen nach: Ein nackter Mann und eine nackte Frau in einem Boot, der Mann richtet seinen großen Penis auf das Gesicht der Frau, sie dreht ihren Kopf weg. Der selbe nackte Mann uriniert auf einen kleinen Dar-ul-Aman-Palast. Was wollte der Künstler damit sagen? "Ich weiß nicht", sagt Mardan Muhammadi unter dem Busch. "Die Besucher mochten das nicht, deswegen zeichne ich nur noch das Boot und den Palast."

Er hat ein Gedicht dazu geschrieben, ein Gespräch zwischen Boot und Palast. Der Palast sagt: "Die Risse in meiner Mauer schreien: Baut mich von neuem auf! Das Boot an meiner Seite ist zerstört, wie ich. Es ist weit weg von seinem Fluss." Das Boot antwortet: "Die Hügel bedecken dich mit Staub. Wenn sie mich nicht bald zu meinem Fluss bringen, wenn sie dich nicht bald wieder aufbauen, dann werden wir dahinscheiden. Für immer."

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