Die Gründe für den Brexit:Woher kommt die Wut der Briten?

Es war nicht nur die Massenarbeitslosigkeit - auch der Dünkel gut situierter Bürger hat zum Brexit geführt.

Gastbeitrag von Raymond Geuss

Es gibt gute Gründe, die Institutionen der EU für reformbedürftig zu halten, und es ist alles andere als töricht, auch prinzipielle Kritik an einer Wirtschaftsordnung zu üben, die ganz offensichtlich die Interessen der Banken und Großkonzerne massiv begünstigt und für die Armen allenfalls Almosen übrighat. Bei der Entscheidung Großbritanniens aus der EU auszutreten ging es allerdings weder um Systemkritik, noch um die kalte Berechnung der angeblichen ökonomischen Vorteile einer Zukunft außerhalb der Union, sondern um einen lang anhaltenden, alle Vernunftüberlegungen zu Boden streckenden, Wutausbruch.

Die angeblichen Naturgesetze des Marktes

Um den Brexit zu verstehen, muss man zwei innenpolitische Grundfaktoren berücksichtigt, die zum Teil unabhängig voneinander, zum Teil aber auch durch ihre Verbindung gewirkt haben. Erstens gibt es, vor allem in den Midlands, im Norden Englands, aber auch in Teilen Wales, verwüstete Industriegebiete, in denen seit dreißig Jahren hoffnungslose Massenarbeitslosigkeit fast zur neuen Lebensnormalität geworden ist. Das waren überwiegend Hochburgen der alten Labour-Partei, in denen die Tories bei den Wahlurnen so gut wie keine Chance hatten, und die demgemäß von Tory-Regierungen immer als "Feindesland" behandelt wurden.

Die Labour Partei versprach zwar dreißig Jahren lang, für diese Gemeinden "etwas zu tun", ohne dass aber eine Verbesserung ihrer Situation erkennbar wäre. Nach den Rettungsaktionen für die großen Banken trat der Kontrast ganz krass zutage: Die Regierung hat relativ unbeteiligt zugesehen, als ganze, für manche Gemeinden lebenswichtige Industriezweige zusammenbrachen, denn gegen die Naturgesetze des freien internationalen Marktes könne man, aber so hieß es, eigentlich nichts machen. Als aber die großen Banken in eine selbst verschuldete Krise stürzten, wurden (übrigens von einer Labour-Regierung) sofort Milliardenbeträge bereitgestellt.

Dass im Nordosten Englands keine Schiffe mehr gebaut werden, geht auf Margaret Thatcher zurück

Die Wut der Menschen in Doncaster, Sunderland und Durham war mehr als verständlich, aber das Unheimliche an der Sache war, dass es den Brexiteers gelang, die EU zum Sündenbock des Elends zu machen. Plötzlich war sie an allem schuld. Sie war das Establishment, gegen das es aufzubegehren galt. Sobald diese Identifikation gelang, war das Spiel aus. Jede Berufung auf Expertenwissen war von vornherein entwertet. Je mehr Bankdirektoren, Wirtschaftsjournalisten, Nobelpreisträger, Präsidenten, usw. auf die Gefahren des Austritts hinwiesen, desto mehr hat sich der Eindruck verstärkt: das Establishment hält zusammen. Wer denen ein Schnippchen schlagen will, muss Brexit wählen.

Michael Gove hat die Parole ausgegeben: "Das britische Volk hat es jetzt satt, von 'Experten' zu hören". Und wer sollte es den langfristig Arbeitslosen verdenken, dass sie es in der Tat satt hatten, von angeblichen "Experten" an der Nase herumgeführt zu werden. Der Finanzmann, der mahnen wollte "Ihr habt durch den Austritt viel zu verlieren", sah sich mit der Reaktion konfrontiert: "Nein, Freund, Ihr habt viel zu verlieren."

Dennoch war die These, dass die EU für die ganze Misere verantwortlich war, Unfug. Dass im Nordosten keine Schiffe mehr gebaut werden, geht auf die Politik Margaret Thatchers zurück (oder, wenn man will, auf die "internationale Konkurrenz"), hat aber spezifisch mit der EU nicht das Geringste zu tun. Kurz, die ökonomische Erklärung ist nicht falsch, aber sie ist unvollständig. Schottland hat auch kahlgeschlagene Industriegebiete (etwa Glasgow) und hat doch anders abgestimmt.

Die Bereitschaft "Ausländern" zu misstrauen

Der zweite Faktor ist die Bereitschaft gerade der englischen Bevölkerung "Ausländern" zu misstrauen, eine Bereitschaft, die sich leicht in handfeste Fremdenfeindlichkeit verwandeln kann. Und unter "Ausländern" sind nicht nur Araber, Libyer und Türken gemeint, sondern auch Franzosen, Deutsche, und Polen (nicht aber Australier, Amerikaner und Kanadier). Der eingefleischte Eigendünkel der relativ gutgestellten bürgerlichen Schichten spielt im Hintergrund, und oft nicht nur im Hintergrund eine wichtige Rolle. In den letzten Wochen hörte man immer wieder den stolzen Satz: "Wir waren nie Europäer, wir sind auch jetzt keine Europäer, und wir wollen niemals Europäer werden".

In diesen Milieus ist man es zwar gewohnt, sich vom großen Onkel, den USA, bevormunden zu lassen, und man konnte sich sogar dazu bereitfinden, vor den finanzstarken Chinesen und —wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ— vor den ölreichen Scheichs das Knie zu beugen, aber vor Europäern? Für sehr viele Angehörige der älteren Generation war es unerträglich, geradezu moralisch empörend, mit Kontinentaleuropäern gleichgestellt zu werden. Wer das schändliche Auftreten und Verhalten unserer Vertreter in den europäischen Institutionen gesehen hat, wird die uns eigenen moralisierenden Überlegenheitsgesten gut kennen.

Wir Briten haben durch unsere Kriegspolitik im Nahen Osten zur Flüchtlingskrise beigetragen

Solange die wirtschaftliche Konjunktur besonders günstig war, und alles in der EU mehr oder weniger nach unserem Willen ging, konnten diese Ressentiments in Grenzen gehalten werden, aber die kleinste Störung der gut geölten Maschinerie, wie zum Beispiel die Unfähigkeit der EU, eine Einigung über die Verteilung der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zu finden, die in der Tat ein Skandal, aber kein Scheidungsgrund war, lässt die euroskeptische Stimmung wieder hochflammen. Die unangenehme Wahrheit, die hierzulande keiner hören will, ist, dass wir, die Briten, nicht Angela Merkel, durch unsere jahrelange Kriegspolitik im Nahen Osten das Flüchtlingsproblem miterzeugt haben.

Es ist wahr, dass eine so leicht zerbrechliche Gemeinschaft keine Grundlage für ein fest gefügtes Gebäude abgeben kann, aber die große Hoffnung war, dass die jüngere Generation der Briten in eine volleuropäische Lebensform langsam hineinwachsen würde, und das Abstimmungsergebnis zeigt, dass diese Hoffnung nicht vollkommen grundlos war. Leider sah sich David Cameron bemüßigt, aus rein opportunistischen Gründen ein Referendum zu versprechen, um mit einer vorübergehenden ungünstigen innenpolitischen Konstellation fertig zu werden. Außer ein paar Fanatikern hat niemand dieses Referendum gewollt, aber die Eigendynamik des politischen Prozesses hat jetzt ein Ergebnis gezeitigt, das für uns in Großbritannien eine Katastrophe darstellt, die nicht wiedergutzumachen ist.

Raymond Geuss, geboren 1946 in Evansville (Indiana) in den USA, seit 2000 eingebürgerter Brite, ist emeritierter Professor der Philosophie an der Universität Cambridge.

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