Der Countdown (X):Warum die Brexit-Gegner sich plötzlich für Lyrik begeistern

Der Countdown (X): "The Second Coming"

"The Second Coming"

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Ein großartiges Gedicht von William Butler Yeats erlebt in Großbritannien gerade eine Renaissance. Das liegt vor allem an seinem apokalyptischen Grundton.

Von Alexander Menden, London

In diesem Monat will die britische Regierung die Ausstiegsverhandlungen mit der EU eröffnen. Unser Londoner Kolumnist beschreibt, wie der bevorstehende Brexit jetzt schon den Alltag verändert.

Gegen Ende des vergangenen Jahres, im Nachbeben der Brexit-Entscheidung und unter dem Eindruck des Trump-Wahlsieges, erlebte ein großartiges Gedicht von William Butler Yeats auf Twitter und in Internetforen eine Renaissance. Yeats schrieb "The Second Coming" 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, und obwohl es viele Interpretationen gibt, ist sein apokalyptischer Grundton unbestreitbar. Zwei Zeilen haben es vielen Lesern besonders angetan: "The best lack all conviction, while the worst / Are full of passionate intensity" ("Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlechtesten vor Leidenschaft vibrieren"). Es scheint, als werde diese Sentenz besonders von britischen Brexit-Gegnern als eine Art lyrischer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen politischen Situation gelesen. Während die Vernünftigen hilflos mit den Armen wedeln, nicht wissend, wie sie mit dem populistischen Irrsinn umgehen sollen, sonnen die Brexiteers sich in der Gewissheit ihres Sieges.

Unhaltbare Versprechen für ein politisches Ziel

Aber so einfach ist es nicht. Die Gegner des EU-Ausstiegs tragen ihre Argumente heute womöglich mit größerer Überzeugung vor als vor dem Referendum, weil der sich abzeichnende "harte Brexit" ja auch ziemlich genau dem entspricht, was sie vorhergesagt hatten. Das Problem ist, dass sich die "passionate intensity" der Euroskeptiker von der Realität in keiner Weise dämpfen lässt. Remainers, die nicht ihrer Meinung sind, werden als wehleidige EU-Freunde, als "Remoaners" verunglimpft; jedes Argument kommt wie ein Bumerang zurück. Sagen die Brexit-Gegner: "Der Brexit, den ihr versprochen habt, ist aus folgenden achtundzwanzig Gründen nicht umsetzbar", lautet die Erwiderung: "Es ist der Wille des Volkes, also muss er umsetzbar sein." Gibt man zu bedenken: "Es haben 17 von 64 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich für den Brexit gestimmt, außerdem durften nur 46 Millionen mit abstimmen - sollte die Meinung der anderen nicht auch berücksichtigt werden?", kommt die gereizte Gegenfrage: "Ihr versteht wohl immer noch nicht, wie Demokratie funktioniert?"

Da hilft es auch wenig, zu begründen, warum Demokratie im Idealfall nicht so funktioniert, dass man erkennbar unhaltbare Versprechen gibt, um ein politisches Ziel zu erreichen, und dann alle zu Verrätern erklärt, die nicht zur Umsetzung der Versprechen beitragen wollen. Im Falle des Brexit gibt es nicht mal die Option, dieser Art Demokratieverständnis bei der nächsten Parlamentswahl Einhalt zu gebieten. Das Ergebnis eines nichtverbindlichen Volksentscheids schlägt anscheinend nach dem Dafürhalten der großen Mehrheit des britischen Parlaments alle anderen demokratischen Institutionen, einschließlich des Parlaments selbst. Es fehlt den Besten (oder zumindest den Guten) nicht an Überzeugung, nur hat sich die Leidenschaft der Brexiteers bisher einfach als wirksamer erwiesen.

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