Filmfestival in Cannes:Das Kino ist prüder geworden

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Szene aus dem Film „Parasite“, für den der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho die Goldene Palme gewonnen hat. (Foto: dpa/Festival)

Cannes hatte einen starken Wettbewerb, würdige Preisträger - und doch war etwas faul bei den diesjährigen Filmfestspielen.

Von Susan Vahabzadeh und Matthias Lerf, Cannes

Im Idealfall macht das Kino seine Zuschauer zu temporären Körperfressern. Ein Film kann eine kurze Reise in die Haut eines anderen sein, einen zwei Stunden lang in völlig fremde Zusammenhänge entführen. Im Wettbewerb der 72. Filmfestspiele von Cannes kam das Körperfressermotiv gleich zweimal vor, in Jessica Hausners "Little Joe", in dem sich Blumenpollen in die Seelen der Menschen einschleichen und sie für immer verändern, so wie die Botaniker vorher ihr Erbgut verändert haben; und in Mati Diops "Atlantique", wo ertrunkene Flüchtlinge wie Dämonen in die zurückgebliebenen Lebenden in einer afrikanischen Küstenstadt hineinfahren.

Beide Filme wurden bei der Abschlussgala am Samstag ausgezeichnet. Diop bekam den Grand Prix, Hausners Hauptdarstellerin Emily Beecham hat den Darstellerinnenpreis erhalten. Beide Filme sind auf ihre Art im besten Sinne verstörend, und wenn sie ihre Zuschauer wie Dämonen heimsuchen, dann haben sie Besseres im Sinn als Hausners böse Blumen. Filme stoßen Gedanken an und eröffnen Perspektiven. Den Hauptpreis, die Goldene Palme, hat der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho für "Parasite" gewonnen, der schon mehrmals in Cannes zu Gast war.

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Nicht nur, weil beide Filme aus Asien stammen, ist der Palmengewinner verwandt mit dem letztjährigen Siegerfilm: Wie im japanischen "Shoplifters" steht auch dieses Jahr eine Familie im Zentrum, die am Rande des Existenzminimums lebt und sich mit legalen und illegalen Aktionen knapp über Wasser hält. Doch dann bekommt der Sohn eine Stelle als Hauslehrer bei einer reichen Familie, die in einer gediegenen Villa wohnt, und von da an wird alles ganz anders. Bong Joon-ho hat die Kritiker in Cannes darum gebeten, nicht mehr zur Handlung zu verraten, darum nur so viel: Ein sanft flackerndes Licht und ein Fleischspieß werden eine entscheidende Rolle spielen. "Parasite" vereint die Stärken seiner früheren Filme, den Schrecken des Monsterhorrors "The Host", das familiäre Drama des Thrilllers "Mother" und die originell formulierte Klassenkritik seines englischsprachigen Films "Snowpiercer". Bis zur letzten Wendung bleibt der Film spannend.

"Parasite" reiht sich so ganz perfekt ein in diesen Wettbewerb. Ladj Lys "Les Misérables", auch unter den Preisträgern (er teilt sich den Preis der Jury mit "Bacarau"), ist beispielsweise tatsächlich aus einer spannenden Perspektive gedreht. Der Regisseur hat selbst die Unruhen von 2005 in der Vorstadt von Paris erlebt, und er versetzt uns abwechselnd in einen Jungen hinein, der nur herumgeschubst wird, und einen Polizisten, der alles gern zum Guten wenden würde. Wenn man wissen will, wie sich Unruhen hochschaukeln, kann man es hier nachfühlen.

Eigentlich kann man jeden der Preise, die vergeben wurden, gut begründen. Es hätte ein halbes Dutzend andere würdige Gewinner der Goldenen Palme gegeben. Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, zum achten Mal in Cannes, arbeiteten sich liebevoll an einem radikalisierten Jugendlichen ab in "Le jeune Ahmed", dafür wurden sie als beste Regisseure prämiert. Céline Sciamma stellt sich in "Portrait de la jeune fille en feu" eine Geschichte vor, wie sie Kunsthistoriker dokumentieren können, das Kino sie aber normalerweise nicht zeigt: Frauen unter sich im 18. Jahrhundert. Eine junge Malerin reist auf einen entlegenen französischen Landsitz, wo sie etwas malen soll, das sie tatsächlich malen darf - die Tochter des Hauses, ein Porträt, das ihrem Verlobten geschickt wird, den sie nie getroffen hat. Mutter und Diener verreisen, und im Mittelteil ist dieser Film dann eine Ménage-à-trois unter Frauen. Sciamma wurde fürs beste Drehbuch ausgezeichnet, aber ihr Film war so durch und durch ungewöhnlich und großartig, dass er auch jeden anderen Preis verdient hätte.

Bei aller Begeisterung für die Filme selbst war es aber doch schwer zu übersehen, dass etwas faul war an Cannes. Irgendwie war alles da, die richtigen Themen, doppelbödiges Genrekino, Stars für den roten Teppich, und dass dennoch alles vielleicht ein bisschen ruhiger zugeht als vor zehn Jahren, ist eigentlich kein Nachteil.

Alle Tabus sind schon gebrochen

Die 72. Filmfestspiele hatten einen ziemlich guten Wettbewerb, aber die Stimmung blieb verhalten. Zum einen kommt das vielleicht daher, dass es keine Kontroversen und hitzigen Debatten mehr zu geben scheint, keine leidenschaftlichen Verteidigungsreden mehr. Das Kino ist prüder geworden. Vielleicht nicht aus Vorsicht, sondern weil alle Tabus schon gebrochen sind, das macht Provokationen reizlos.

Zu einer Debatte darüber, ob eine bestimmte Art des Filmemachens funktioniert oder nicht, hätte noch am ehesten "A Hidden Life" von Terrence Malick getaugt, der von Franz Jägerstätter handelt, der seine Wehrdienstverweigerung unter den Nazis mit dem Leben bezahlte. Nur ist die Erzählung in Schnipseln bei Malick eine Methode, die er schon 2011 mit "The Tree of Life" etabliert hat, der ebenfalls im Wettbewerb von Cannes lief.

Es liegt nicht an den Filmen und ihren Schöpfern, die haben fast alles richtig gemacht. Aber mehr als je zuvor steht bei jeder Vorführung die Frage im Raum, ob diese Filme, selbst die großartigen, noch ihr Publikum erreichen. Das gilt sogar für Pedro Almodóvars "Leid und Herrlichkeit", für den Antonio Banderas den Preis für den besten männlichen Darsteller bekam. In den meisten Ländern, auch in Deutschland, ist die Art von Kino, die bei Festivals zu sehen ist, im normalen Kinobetrieb lange nicht mehr so erfolgreich wie früher. Diese Filme gehen unter in der Flut des Angebots und sie verlangen oft tatsächlich nach einer Leinwand, das gilt selbst für viele der Netflix-Produktionen, die in Cannes zwar ausgesperrt werden, auf anderen Festivals aber den Ruhm des Unternehmens mehren. Wie viele Netflix-Abonennten haben tatsächlich "Roma" gesehen, der in Venedig Premiere hatte und dann bei den Oscars gefeiert wurde, und wenn: Kann man Alfonso Cuaróns Bilder auf einem kleinen Schirm wirklich so sehen, wie er sie gemeint hat? Spürt man, dass er dieses Hausmädchen im Kittel inszeniert, als wäre sie Sophia Loren? Das ist das Kreuz mit dem Kino von heute. Auf der Leinwand allein können nur noch Superhelden überleben. Relevanz setzt Sichtbarkeit voraus; aber wenn manche dieser Filme es nicht im normalen Kinobetrieb schaffen, dann sind sie versunkene Schätze, die darauf warten, geborgen zu werden.

© SZ vom 27.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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