Buchgestaltung:"Das hier war das Paradies"

Judith Schalansky

Judith Schalansky, 1980 geboren in Greifswald, lebt in Berlin. Zuletzt erschien ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ (Suhrkamp).

(Foto: Jürgen Bauer)

Haben Bücher eine Zukunft? Ein Besuch zur Ermutigung bei der Schriftstellerin Judith Schalansky, die mit ihrer Reihe "Naturkunden" und ihrem neuen Buch dem Büchermachen die Sinnlichkeit zurückgegeben hat.

Von Alex Rühle

Schönheit ist etwas sehr Fragiles. Man kann sich fünf Jahre lang abmühen, mit Texten und Recherchen, mit der Schrift, dem Umschlag und den Farben. Zwei Dummys produzieren und kurz vor dem Andruck noch das Einbandpapier wechseln. Aber am Ende braucht nur ein unachtsamer Mensch an der Prägemaschine stehen, und alles ist futsch: Drei Tage vor unserem Treffen kam die zweite Auflage ihres neuen Buchs aus der Druckerei. "Verzeichnis einiger Verluste". Total missglückt. Jedenfalls in Judith Schalanskys Augen. "Schaunse mal hier." Schalansky fährt mit den Fingern über den Klappentext. "Die Punzen sind nicht frei, da wurde mit den Prägestempeln zu fest aufgedrückt, die Innenräume der ,e's und ,a's sind zu doll ausgefüllt. Und hier ..." Sie blättert weiter. Die Textfarbe der ersten Auflage war schwarz, "also sattschwarz. Das hier ist jetzt eher anthrazit". Sie zeigt auf die beiden Ausgaben im Vergleich, und man erahnt aus ihrer Mimik, welch heftige Unwetter die letzten Tage durch sie hindurchgezogen sein müssen.

Draußen herrscht die passende Beleuchtung. Graues, fahles Winterlicht. Unter so einem Himmel muss sie damals bei Sundhagen losgelaufen sein: "Tief und schwer hängt über mir die weite, breit gespannte Wolkendecke", heißt es in "Hafen von Greifswald", einem der zwölf Texte des neuen Buchs. Wobei - hier oben, im dritten Stockwerk über Berlin, wirkt alles leicht und licht. Riesige Fenster, ein Wohnwürfel mit sechs Meter hohen Decken, "eine unserer Nachbarinnen ist Hochseilartistin", sagt Schalansky und stellt zwei Kaffeetassen auf den großen Holztisch, auf dem im Verlauf des Nachmittags eine Bücherhügellandschaft anwachsen wird. Immer wieder steht sie auf - "Das muss ich Ihnen zeigen" - und schleppt neue Schätze an: Einige Bände aus den "Naturkunden", die sie seit 2013 im Verlag Matthes & Seitz herausgibt. Nachschlagewerke aus ihrer Kindheit in der DDR - "ich hab schon als Kind von dem einen Buch geträumt, das alle anderen in sich birgt". Die spanische Ausgabe ihres "Atlas der abgelegenen Inseln", furchtbar, sagt sie, "da stimmt nichts, zu kleines Format, der Einband zu dick, keine Fadenheftung, das Papier zu weiß, die Schrift ..." Sie winkt ab. Daneben liegt zum Vergleich das deutsche Original. "Schaunse mal", sagt sie wieder und hält eine Lupe auf die beiden Weltkarten, "hier wurde mit Sonderfarben gearbeitet, bei den Spaniern einfacher Vierfarbdruck." Für den Laien sehen die beiden Welten erst mal recht ähnlich aus, aber in der Vergrößerung strahlt die deutsche Pazifikversion in gleichmäßig tiefem Hellblau, die spanische ist nur blassblaues Gepixel. Und wenn man es erst mal gesehen hat, springt es plötzlich ins Auge, so satt das eine, so matt das andere. Das "Verzeichnis einiger Verluste" ist nicht annähernd so missraten wie das spanische Lieblosigkeitsdesaster, "aber", sie zuckt mit den Schultern, "das aktuelle Unglück ist immer das akut schmerzhafteste".

Hmm. Knifflige Situation. Einmal quer durchs Land gereist, um mit Judith Schalansky über Schönheit zu sprechen. 2018 war ja ein beeindruckend hässliches Jahr. Politisch ohnehin. Aber auch für den Buchmarkt. Alles siecht dahin, schrumpfende Auflagen, immer weniger Leser, auf der Messe in Frankfurt wirkte es, als hätte die deutsche Grabrednerinnung ihre Jahresversammlung zusammengelegt mit dem Branchentreffen der Schwarzmaler. Außerdem - und das hat nichts mit der Krise zu tun - wird einfach unfassbar viel hässlicher Bücherschrott produziert. Da wär's doch ein kräftigender Gegenzauber, zum Beginn des Jahres 2019 die Schönheit des Buchs zu feiern. Ein Werkstattgespräch mit Judith Schalansky! Weil die beides kann: Texte schreiben, die ganz nüchtern daherkommen, aber in ihrem Sprachgewebe so kondensiert sind, so formvollendet, dass man beim Lesen das Gefühl hat, das ist verdichtete Materie. Gleichzeitig baut sie jedem Text aber auch ein Gehäuse, das so passend erscheint wie der maßgeschneiderte Handschuh für die Hand: Schalansky ist gelernte Buchgestalterin.

Was genau macht aber ein schönes Buch aus? "Viele denken, Schönheit hat etwas mit Geld zu tun", sagt Schalansky. "Dabei wird Wertigkeit ganz anders hergestellt. Durch Bezogenheit. Ehrempfinden." Sie stockt kurz, als würde sie selbst über diese hehren Begriffe staunen und wendet die "Insektopädie" hin und her, einen Band der Naturkunden, den sie gerade aus dem Regal geholt halt und dessen irisierender Umschlag im Licht changiert wie der Chitinpanzer eines Käfers. "Es ist was Altertümliches", sagt sie. "Dinge sorgfältig zu machen. Nach bestem Wissen und Gewissen. Und sich dafür verantwortlich fühlen. Also auch verantwortlich sein, wenn etwas schiefläuft. Das geht aber nur, wenn man in Beziehung tritt zu seiner Arbeit."

Die zweite, viel weitere Exkursion führte durch Lesesäle und Lexika

Das "Verzeichnis einiger Verluste", das Ende Oktober bei Suhrkamp erschienen ist, kreist um verloren gegangene Natur- und Kunstgegenstände: Die versunkene Pazifikinsel Tuanaki, ein Gemälde von Caspar David Friedrich, der Kaspische Tiger, der erste Film von Friedrich Wilhelm Murnau. Die zwölf Texte haben manchmal nur eine lose Verbindung zum jeweils titelgebenden Gegenstand, kreisen aber immer um Aspekte des Verlusts, des Eingedenkseins oder Aufhebens. In dem Monolog, der von Murnaus Film "Der Knabe in Blau" ausgeht, läuft die alternde, einsame Greta Garbo als Gefangene ihrer einstmaligen Schönheit und ihrer chronisch schlechten Laune durch das Manhattan der späten Fünfzigerjahre. Dem Hafen von Greifswald, der das Sujet von Friedrichs verlorenem Gemälde ist, nähert sich Schalansky durch eine dreitägige Wanderung den Ryck hinab, von der Quelle bis zur Mündung. Die 16 Seiten Text gehören zum Beeindruckendsten, was es in deutscher Sprache an Nature Writing gibt. "Komisch, oder? Nature Writing - wir haben nicht mal einen deutschen Begriff für diese Art von Texten", sagt Schalansky.

Sie nennt ihre Etappenwanderung "eine Wahrnehmungsschulung. Wobei das meiste Bibliotheksarbeit war". Erst lief sie mit Stift und Fotoapparat den Fluss ab, dann kam die zweite, viel weitere Exkursion durch Lesesäle und Lexika, den Insekten, Landschaftsformen und Vogelarten hinterher, die ihr da draußen vor die Füße und die Linse gekommen waren. Mulm, Seggen, Hutung, Femur. Froschbissblätter, Schaumkraut und Azurjungfern. An die 20 Vogelarten fliegen durch den fertigen Text und beim zweiten Lesen fällt die enorme Farbpalette auf, die da eingeschmuggelt wurde, lenzgrüne Zweige, der achatbraune Leib einer Erdkröte und immer neue Grautöne, zinn-, nachtfalter-, bleigrau. "Dafür hab ich mir ein Farblexikon beschafft."

Für Greta Garbos Motzmonolog hat sie Übersetzungen amerikanischer Romane aus den Fünfzigerjahren gelesen, in der Hoffnung, darin die adäquate Sprachmelodie zu finden. "Das war eine Sackgasse. Aber ich wusste, dass die Garbo Kraftausdrücke liebte. Irgendwann hab ich ein Lexikon der deutschen Umgangssprache von 1962 gefunden, und da standen all diese wunderbaren Begriffe drin: Blusenschönheit, Seidenhase, fingerfasernackt. Ganz meine Blutgruppe. Mausmutterseelenallein. Da hatte ich dann endlich Fleisch an den Knochen und konnte weiterarbeiten."

Die dreitägigen Greifswalder Wahrnehmungsexerzitien wurden in dreimonatiger Arbeit in passenden Wortschatz umgemünzt und zum Funkeln gebracht. "Eigentlich war das eine Expedition", sagt sie. "Es ging mir darum, ein Stück Wirklichkeit genau zu vermessen und zu bestimmen. Deshalb auch das Farblexikon." Judith von Humboldt im Vorgarten der eigenen Vergangenheit, sie kommt aus der Greifswalder Gegend, aus einem Lehrerhaushalt. Als Kind wollte sie Entdeckerin werden. "Aber man kam ja nun mal nicht raus aus der DDR. Außerdem hab ich bald verstanden, dass eh schon alles entdeckt ist." Aus ihrem Text aber schaut einen dieses zersiedelte Grenzland zwischen Natur und dem Stadtraum von Greifswald aufgrund der Beschreibungsgenauigkeit an wie fremde, neu entdeckte überbordende Wildnis. Gerade noch bestaunt sie Libellen, "die Andeutung eines Hufeisens auf ihrem irisierenden Hinterleib", da tut sich plötzlich die akkurate Rasenlandschaft eines Golfplatzes vor ihr auf - und wirkt nach den seitenlangen sprachlichen Nahaufnahmen der Natur fremd wie eine Mondlandschaft.

"Außerdem", ergänzt sie, "könnte man in 50 Jahren anhand dieses Textes vielleicht rekonstruieren, was alles verloren gegangen ist an Vielfalt." Sprache als letzter Zufluchtsort der Flora und Fauna - steht hinter den Naturkunden also auch so eine Art Bewahrungsmelancholie? "Unbedingt", sagt sie. "Das ist ein Archiv. Und Archiv kommt von Arche." Gleich zweimal zitiert sie einen Satz des Naturforschers Linné: "Mit den Namen vergeht auch die Kenntnis der Dinge."

Womit wir wieder bei der Schönheit wären. "Es geht um Präzision", sagt Schalansky. Darum, die richtige Form für den Inhalt zu finden. "Buchgestaltung ist wahnsinnig konservativ. Weil gute Typo das Gegenteil von einem Abenteuer ist. Sie kann nicht witzig sein. Man kann nur mit Angemessenheit arbeiten. Um das Buch als Wissens- und Lektürespeicher ernst nehmen zu können." Man könnte ergänzen, dass Schönheit bei ihr immer auch mit unbedingtem Formwillen zu tun hat: Jede der zwölf Geschichten umfasst 16 Seiten, streng wie ein Setz- oder Sätzekasten. So wie jeder ihrer Texte im "Atlas der abgelegenen Inseln" höchstens 25 Zeilen lang sein durfte, obwohl sie oft derart viel recherchiert hatte, "dass ich einen Roman dazu hätte schreiben können. Aber diese Beschränkung war Teil der Aufgabe. Bücher sind ja so ordentlich, und ich hab die Ordnung noch mal mehr betont und nach außen gekehrt".

Da sie dann wieder aufsteht, um einen weiteren Band der Naturkunden zu holen, kann hier ein Gespräch zwischengeschaltet werden. Kurz nach dem Besuch, ein Anruf bei Andreas Rötzer mit der Bitte, Schalansky zu porträtieren. Der Verleger des Matthes-&-Seitz-Verlags sagt, Schalansky irritiere ihn oft. Oh. Warum? "Sie hat eine absolute Urteilsfähigkeit, so wie andere ein absolutes Gehör haben. Ob es um Umschläge, Schriften, den Gesamtauftritt der Naturkunden oder um Autoren geht." Es sei "schlicht ein Glücksfall, mit ihr arbeiten zu können. Ich bin regelmäßig von dieser präzisen Urteilssicherheit überrascht. Wobei Stil, Haltung und Moral immer aufeinander bezogen sind. Es geht ihr immer um was. Sie ist im tiefen Sinne engagiert."

Schalansky kommt mit "Pilger am Tinker Creek" zurück, einem Buch von 1974, das sie in den Naturkunden herausgegeben hat, ein mystisches Tagebuch, in dem die Amerikanerin Annie Dillard, ausgehend von der Erkenntnis, dass "die Vielzahl an Details" das "wichtigste und sichtbare Faktum der Welt" sei, ein Jahr lang tägliche Wanderungen an den Ufern des Flüsschens Tinker unternimmt, und der die Natur unterm staunenden Schauen zur Schöpfung wird. "Das ist so intensiv, dass man es nur in kleinen Dosen lesen kann", sagt Schalansky, "der Wahnsinn."

Bleibt die Frage, was mit der zweiten Auflage ihres Buches geschieht. Sie hat mit dem Gedanken gespielt, alles recyceln zu lassen. Der Einband enthält aber zu 30 Prozent Leder. "Vielleicht kann man Dämmmaterial daraus machen?" Nichts treibt sie so um wie der Klimawandel und unser manischer Konsumismus. "Man müsste eine Religion gründen", sagt sie, "eine Weltreligion des Verzichts und des Weniger. Eine ganz und gar diesseitige Religion, das Paradies kommt ja nicht irgendwann. Das hier", sie zeigt nach draußen in die Berliner Dämmerung, "das hier war das Paradies. Das ist alles, was wir haben." Was sich freilich kaum mit der Zerstörung von mehreren Tausend Büchern verträgt. Weshalb es auch darauf hinauslaufen dürfte, dass die Auflage so wie sie ist, erscheint. Sie schreibt kurz nach dem Besuch, sie wolle ins Zentrallager fahren und sich das ganze Unglück anschauen, in der Hoffnung, dass es alles doch nicht so schlimm ist. "Es gibt ja doch graduelle Unterschiede beim Fehlerhaften, auch wenn es mir schwerfällt, das anzuerkennen."

Für die dritte Auflage wird sie dann nach Ulm fahren, um höchstpersönlich an der Druck- und Prägemaschine zu stehen. "Bücher sind eine Flaschenpost durch die Zeit, vielleicht das beste Medium, um Bleibendes zu schaffen. Aber wenn man eh mit der potenziellen Ewigkeit kalkuliert, dann muss schon alles stimmen. Mir kommt es momentan vor, wie wenn jemand bei der Voyager einen Fehler eingebaut hätte."

Voyager! Wunderbar. Diese Flaschenpost der Nasa, die Sonde, die seit 1977 so ein rührend optimistisches Weltbild von uns ins All hinausträgt, Autos als Errungenschaft, der Mensch als Krone der Schöpfung. So wie es aussieht, wird diese Schöpfung einstmals, wenn die Aliens unsere frohe intergalaktische Botschaft entziffern werden, längst verschwunden sein, samt allen Büchern, Namen, Kenntnissen und Lesern.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: