Soziologie:"Sklavenhalter verstehen sich als Vaterfiguren"

Austin Choi-Fitzpatrick Sklavenhalter

In seinem Buch geht es um Indien. In Wirklichkeit gehe es aber um uns alle, die direkt oder indirekt von diesen Umständen profitierten, sagt Austin Choi-Fitzpatrick.

(Foto: Austin Choi-Fitzpatrick)

Sklaverei ist illegal, und doch eines der Fundamente westlichen Wohlstandes. Wie sehen moderne Sklavenhalter sich und ihre Arbeiter? Der Soziologe Choi-Fitzpatrick hat es erforscht.

Interview von Juliane Liebert

Obwohl die Sklaverei formal weltweit abgeschafft worden ist, existiert sie in vielen Nischen der Welt fort. Für sein Buch "What Slaveholders Think: How Contemporary Perpetrators Rationalize What They Do" (2017, Columbia University Press) hat der Soziologe Austin Choi-Fitzpatrick gegenwärtige Sklavenhalter über ihre Ansichten und die aus ihrer Sicht bestehende Legitimation ihres Handelns befragt. Er recherchierte undercover in Bordellen und sprach für sein Buch mit Sklavenhaltern in Indien.

SZ: Ihr Buch beginnt mit dem Satz "Ich mochte Aanan sofort, als ich ihn kennenlernte." Wie hat es sich angefühlt, mit Sklavenhaltern zu sprechen?

Austin Choi-Fitzpatrick: Für mich war das Überraschendste, wie einfach es war, mit ihnen zu reden. Es war manchmal einfacher, mit den Tätern zu sprechen, als mit den Opfern. In einigen Fällen hatten sich die Opfer noch nie zu ihren Erlebnisse geäußert. Sie wussten nicht, wie sie ihre eigene Geschichte erzählen sollten. Die Täter waren erfahrener. Sie wussten mehr von der Welt. Wir teilten etwas. Es war sehr ernüchternd für mich zu realisieren, dass ich so viel mit den Tätern gemeinsam hatte - Status, Vokabular, die Sichtweise auf die Welt. Dinge, die mich von den Opfern trennten, denen meine politische Sympathie galt.

Mit wie vielen Protagonisten haben Sie gesprochen?

Insgesamt mit 300 Menschen. In Interviews und Gruppendiskussionen sprach ich mit den Tätern, ihren Opfern, Menschenrechtsgruppen, Politikern.

Gibt es irgendeinen Moment, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ich sprach mit 25 Menschen, die als Zwangsarbeiter in einer Ziegelfabrik gearbeitet hatten. Ich konnte nicht mit dem Täter sprechen, denn er war gewalttätig, hatte seine Arbeiter misshandelt und war im Gefängnis. Als die Männer um einen Schornstein herum arbeiteten, fanden sie Stücke eines Körpers. Knochen von einem Arm und einem Bein. Sie wussten, dass sie sich in einer sehr schlimmen Situation befanden. Ich fragte sie: "Wie seid ihr entkommen?" Ein Mann zeigte mir wortlos, dass er in seinen Anziehsachen ein sehr sehr altes Nokia-Handy versteckt hatte. Er benutzte es, um eine Organisation anzurufen, die ihnen helfen konnte.

Sie schreiben, dass die Sklavenhalter denken, dass wir in einem Zeitalter des Niedergangs leben.

Ja. Ich realisierte zwei Dinge: Dass die Täter klug sind - und dass ihre Opfer auch klüger werden. Die Freiheit kommt durch neue Straßen. Neue Schulen. Die Organisationen braucht es, um das Bewusstsein der Zwangsarbeiter für ihre Situation zu steigern und ihnen jemanden zu geben, den sie anrufen können. Wenn es neue Informationen gibt, beginnt ihr Verstand sich zu bewegen. Die Arbeiter gehen zu den Tätern und sagen: "Warum bezahlst du mich nicht? Warum können meine Kinder nicht in die Schule gehen?" Der Täter sagt dann: "Du arbeitest, weil ich es dir sage." Neue Probleme entstehen. Das Nokia war wichtig. Aber es könnte auch ein Busticket sein. Oder einfach zu sehen: Da entsteht eine neue Straße. Wohin führt diese Straße? All diese Dinge sind für den Täter eine schwierige Angelegenheit. Sie halten sie für einen Rückschritt.

Sind sich die Sklavenhalter des Unrechts bewusst, das sie begehen?

Es gab ein paar, die wussten, dass sie das Gesetz brachen. Die meisten glauben aber, dass sie das Einzige sind, was zwischen ihren Arbeitern und der absoluten Armut und Verzweiflung steht. Weil niemand außer ihnen sich um sie kümmern würde. Sklavenhalter verstehen sich als Vaterfiguren. Beschützer. Sie sehen sich als die, die einen Job machen, den niemand sonst übernehmen möchte. Sie beschweren sich, dass sich niemand bei ihnen bedankte.

Vor lauter Schulden in die Sklaverei

Die Täter achten doch aber darauf, dass es ihren Arbeitern nicht zu gut geht, damit sie sich nicht auflehnen können.

Sie tun etwas sehr Interessantes: Sie planen viel. Bei Sklaverei geht es nicht mehr um Besitz. Es gibt keine Quittung für den Menschen. Es geht nur um Kontrolle. Wie üben sie diese Kontrolle aus? Überwachung funktioniert am besten, wenn du in einer Beziehung zu deinem Opfer stehst. Wenn du weißt, wann die Person Geld braucht. Die Sklavenhalter sagten mir also: "Ich warte auf die Momente, in denen die Arbeiter schwach sind. Dann helfe ich ihnen. Dann schulden sie mir was." Sie achten darauf, dass ihre Arbeiter nicht zu viel Geld haben. Oder zu viel Zeit. Zu viele Ideen. Irgendetwas, was den Wunsch nach Freiheit in ihnen wecken könnte.

Es ist also ein bestimmtes Schema, nach dem sie vorgehen?

Ja. Schritt 1: Schwächen finden, um Kontrolle zu übernehmen. Schritt 2: Diese Schwäche aufrechterhalten, um die Kontrolle zu bewahren.

In Ihrem Buch beschreiben Sie den Fall Gorals, eines Sklavenhalters, der seinem Arbeiter 20 Euro für zwei Jahre Arbeit zahlte, und ihn dann drei weitere Jahre unbezahlt bei sich behielt.

Oft sind die Opfer von Beginn an verletzlich, weil sie keine andere ökonomische Option haben. Es gibt für sie keine andere Methode, an diese 20 Euro heranzukommen, als sie zu leihen. Sobald sie verschuldet sind, haben sie keine andere Möglichkeit als die Sklaverei, um das Geld zurückzuzahlen. Sie haben nichts. In Indien gibt es so viele Menschen in absoluter Armut, sie haben diese 20 Euro einfach nicht. Zudem wissen sie nicht, was ihre Arbeit wert ist.

Es hält sie also eine Verschuldung, die längst abgedient sein müsste, in ihrer Situation.

Ich habe viele Arbeiter getroffen, die mir gesagt haben: "Ich schulde meinem Besitzer so und so viel Geld." Und ich fragte: "Woher weißt du das?" Und sie: "Es steht in dem Buch." Und ich: "Wo ist das Buch?" Und sie: "Im Haus." Ich: "Hast du es je gesehen? Kannst du lesen?" Sie: "Nein." Zehn Minuten später frage ich nochmal: "Hast du das Buch je gesehen?" Und sie: "Nein. Nie." Darum: Wenn dann einer sieht: Da wird eine Straße gebaut. Dein Telefon klingelt. Und du hörst von deinem Nachbarn: In der Stadt gibt es Arbeit. Dann gehst du.

In größerem Zusammenhang betreffen diese Mechanismen uns alle, die wir an unseren Computern sitzen.

Ja. Es geht um die Kompromisse, die wir alle eingehen. In meinem Buch geht es um Indien. Aber in Wirklichkeit geht es um uns alle, die direkt oder indirekt von diesen Umständen profitieren. Das gilt zum Beispiel auch für mein Hemd. Ich mag es, aber weiß ich, wie es hergestellt wurde? Nein. Dafür hab ich keine Zeit. Warum? Weil ich mit Ihnen rede. Ich habe keine Kriminellen interviewt. Ich habe normale Menschen interviewt. Und was diese normalen Menschen, die Täter sind, mir erzählt haben, lehrt mich, was es bedeutet, in einer sich verändernden Welt ein ethisches Leben zu führen. In Indien. In Amerika. In Deutschland. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, waren plötzlich verantwortlich. Weil sie neue Dinge über ein altes Verhalten erfuhren. Es geht nicht um Indien. Es geht um mich und darum, wer ich heute bin.

Das ist die Herausforderung.

Ja. Vor zwanzig Jahren wussten wir nichts über Sklaverei. Vor zehn Jahren wussten wir nichts über die Opfer und Überlebenden. Heute beginnen wir gerade erst, die Täter zu verstehen. Aber die Täter zu verstehen ist wichtig, wenn wir Sklaverei permanent beenden wollen. Ich denke, dass das möglich ist. Und ich denke, dass es nur möglich ist, wenn wir die soziale Natur der Ausbeutung verstehen.

Austin Choi-Fitzpatrick Sklavenhalter

Austin Choi-Fitzpatrick: "What Slaveholders think"

(Foto: Austin Choi-Fitzpatrick)
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