Britische Literatur:Von Stil und feiner Moral

June 2 2009 London England UK Martin Amis pictured at The Movement Reconsidered Event at The

Der Autor Martin Amis, geboren 1949 in Swansea.

(Foto: imago/ZUMA Press)

Ist Martin Amis das konservative Enfant terrible, als das er sich in öffentlichen Debatten gibt? Eine von Daniel Kehlmann besorgte Sammlung seiner Essays bringt es an den Tag.

Von Johanna-Charlotte Horst

Entspannte Körperhaltung, beherrschter Blick, im Hintergrund Bücherstapel, alte Möbel, bodentiefe Fenster, ein Kelim-Teppich. Vor uns sitzt der britische Schriftsteller Martin Amis. Er trägt Chelsea Boots, ein Klassiker aristokratischer Fußbekleidung. Wer diese Schuhe zu tragen weiß, putzt sie oft mit angemessen teurer Schuhcreme und freut sich über die Patina des Nicht-zu-Neuen. Im besten Fall ist man mit diesem Stiefeltypus von frühester Kindheit an vertraut. Amis ist so ein Fall: Ein anderes Foto zeigt den jungen, etwa zehnjährigen Mod - Schlips und Chelsea Boots - im wenig angeregten Gespräch mit dem berühmten Vater, dem Schriftsteller Kingsley Amis. Amis Junior ist nicht aus gutem, sondern besser: aus mondän zerrüttetem Hause. Daher das Vanity-Fair-Flair im Familienalbum. Es umweht den Autor bis heute. Viele Zigaretten, Bücher und schöne Frauen lassen nicht daran zweifeln: Amis' konzentriertes Laisser-faire hat Stil.

Das ist hier keine Nebensache. Eine stehende Formel der Amis'schen Poetik könnte lauten: Stil ist gleich verfeinerte Moral. Auch in dem neuen, von Daniel Kehlmann herausgegebenen Essayband "Im Vulkan" geht es um Moral und Stil. Amis beschwert sich zum Beispiel über die geschmacklose Abkürzung "9/11". Dabei bemüht er das rhetorische Prinzip des Dekorum, das die Angemessenheit einer Rede bezeichnet. Amis' Stilkunde zufolge verstößt "9/11" gegen das Dekorum, weil die Zahlen arabisch sind. Schön, wenn ein Autor so gebildet ist, aber schade, wenn er die Pointen dabei verpasst: In Rhetorikbüchern lässt sich nachlesen, dass Angemessenheit sich an kulturellen Normen bemisst. In der westlichen Welt werden nun einmal arabische Zahlen verwendet und nicht römische. Man stelle sich vor, "IX/XI" träte an die Stelle von "9/11". Lassen die römischen Ziffern nicht an imperialistische Absichten denken? Was würden verschwörungstheoretische Zahlenmystiker aus der Symmetrie der Zeichen machen? Amis plädiert dann auch für die Bezeichnung "11. September". Dennoch ist offensichtlich, dass mit dem albernen Unbehagen gegenüber der arabischen Herkunft unseres Zahlensystems mehr als Stilkritik auf dem Spiel steht.

Kehlmann versammelt in "Im Vulkan" 22 Texte, die zwischen 1980 und 2015 geschrieben wurden. An essayistischem Esprit mangelt es keinem. Erstaunliche Geschichten werden erzählt. Amis fährt mit Tony Blair durch den Triumphbogen des Constitution Arch am Hyde Park, berichtet von Freuds ungeheuerlichen Ratschlägen an die Mutter von Prinz Philipp und sitzt an Capotes Krankenbett. Er will den Puls der Gesellschaft messen. Dabei scheut er das Konkret-Intime nicht. Gerade sein indiskreter Blick macht die Reportagen lesenswert. Neun davon sind in den 1980ern entstanden, nur drei in den 2010ern. Wenn Amis in den englischsprachigen Originalausgaben selbst die Verantwortung für die Komposition seiner Essay-Bände übernimmt, lässt sich immer ein Konzept feststellen. Schade, dass der Schweizer Kein & Aber-Verlag das Buch nicht einfach hat übersetzen lassen, wie es französische Verlage zuverlässig tun. "Im Vulkan" kommt als Potpourri daher, Literaturkritiken, Reportagen und Porträts berühmter Männer stoßen unvermittelt aufeinander.

Mit Frauen wird kaum gesprochen. Amis' Antwort auf feministische Forderungen funktioniert wie der Fußballwitz, demzufolge der ehemalige Bundespräsident Rau einmal vorgeschlagen haben soll, Fußballstadien nach Frauen zu benennen. Da kam man auf folgenden Namen: Uwe-Seeler-seine-Frau-ihr-Stadion. Die Essay-Überschrift "Besuch bei Mrs. Nabokov" könnte ähnlich zustande gekommen sein. In der britischen Presse wird Amis regelmäßig als Enfant terrible inszeniert. Zuletzt hat sich die Kritik der Amis'schen Urteilskraft an dessen Anti-Islamismus entfacht. 2007 forderte er in einem Interview, die muslimische Gemeinschaft müsse leiden, bis sie ihr Haus in Ordnung gebracht habe. Als sein gewichtigster Gegner tritt Terry Eagleton auf, ein marxistischer Literaturwissenschaftler von internationalem Renommee. Eagleton versteht Amis' Statement als Symptom für die Rückkehr ideologischer Konflikte. Amis hat seine Formulierung seither immer wieder relativiert.

So auch in "Im Vulkan". An einer Stelle heißt es: "Ich bin ein Fall von Islamismusphobie." Islamismus also, nicht Islam. Man nimmt dem Autor diese schlau daherkommende Differenzierung kaum ab, zu oft verwendet er dann doch Islam und Islamismus synonym. Der Anschlag auf das World Trade Center und seine Folgen sind zum Kernthema öffentlicher Debatten mit Amis geworden. Nach diesem welthistorischen Ereignis dürfe niemand mehr die Augen davor verschließen, dass die Geschichte und ihre großen Erzählungen doch noch nicht am Ende sind, argumentiert Amis. Das zu tun, wirft er seinen politischen Feinden vor. Sie seien betäubt "von Relativismus und weißer Schuld". Ohne sich dessen bewusst zu sein, würden sie dabei "Apologeten einer religiös-politischen Welle".

Amis Angriff auf den liberalen Relativismus hat Kommentatoren dazu verleitet, ihn als Neonkonservativen oder "Blitcon" - British literary neoconservativ - zu beschimpfen. Damit wird er als britische Version von Botho Strauß und potenzieller Bündnispartner Uwe Tellkamps dargestellt. Ganz so einfach kann man es sich aber nicht machen: Amis kämpft nicht nur gegen eine Dogmatik linksliberaler, sondern auch gegen eine Dogmatik neokonservativer Couleur. Zugleich verstärkt sich beim Lesen aber der Eindruck, Amis warne vor dem Islam als bedrohlicher Religion. Die Kontroverse, die in der britischen Öffentlichkeit zwischen Eagleton und Amis stattgefunden hat, wird in den Essays von "Im Vulkan" fortgeführt, auch wenn der Herausgeber Kehlmann sie mit keinem Wort erwähnt.

Kehlmann selbst wirft an anderer Stelle Bertolt-Brecht-Fans vor, vor lauter radical chique blind für moralische Verfehlungen zu sein. Aber lässt er sich nicht selbst von der Stilsicherheit seines Idols blenden? Im Vorwort zu "Im Vulkan" bezeichnet Kehlmann Amis' Essays als "Impfung gegen Fanatismus" und attestiert ihnen die "Sprenggewalt einer Nuklearwaffe". Erstaunlich, wie wenig der Herausgeber hier auf der Höhe sprachlicher Präzision ist. Er verwendet eine Metaphorik, die schräg zu Amis' Kritik an atomarer Kriegsführung steht.

Und nicht nur das, auch der Titel "Im Vulkan" ist ein Fauxpas. Im gleichnamigen Essay porträtiert Amis den Autor Malcom Lowry. Der Leser lernt ihn als Alkoholiker kennen, der sich in den Ruin trinkt. Amis' Titel "Im Vulkan" steht also für das explosive Chaos, zu dem Lowrys Leben geworden ist. Im Kontrast dazu führt sich Lowrys Roman "Unter dem Vulkan", so Amis Formulierung, im Sinne von Stil und Moral "gut auf". Nach der Lektüre dieses Essays fragt man sich, ob der Name des Essaybandes dem Leser sagen soll: Vorsicht, Amis ist im Vulkan, er führt sich nicht gut auf. Diesen Kurzschluss hat Kehlmann vermutlich gar nicht beabsichtigt. Angemessen ist er trotzdem. Kokette Inkorrektheit passt nicht zur Brisanz aktueller globaler Konflikte. Radikal kann später einmal wieder schick sein.

Martin Amis: Im Vulkan. Essays. Herausgegeben von Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Kein & Aber Verlag, Zürich 2019. 320 Seiten, 25 Euro.

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