Berlinale:Was ist das, Zuhause?

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Die Frauen wiederholen die Fehler der Mütter, die Söhne die Fehler der Väter: In „Kız Kardeşler“ zeigt Emin Alper die Last der Tradition in einem anatolischen Bergdorf. (Foto: verleih)

Endspurt des Wettbewerbs: Angela Schanelec, Roberto Saviano, und andere erkunden beengte Mikrokosmen.

Von Annett Scheffel

Alles beginnt mit einem Esel. Der steht da, in einer langen Einstellung, und blickt erst aus dem Fenster, dann in die Kamera. Ein Hund gesellt sich dazu, zwei Tiere wie die Figuren einer Parabel, die uns Angela Schanelec in "Ich war zuhause, aber" dann aber vorenthält. Stattdessen springt sie in ihre höchst artifizielle, mit großer Präzision erzählte Familiengeschichte. Der dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag spaltete die Meinungen wie kein zweiter in diesem Jahr. Schanelecs Film, der jede Realitätsnähe komplett verweigert, rührt an eine alte Frage des Autorenkinos: Wie steht es um das Verhältnis von Film und Wirklichkeit? Und geht es bei der Frage, was ein Film über die Welt erzählt, nicht im Grunde nur darum, ob und was wir davon verstehen wollen?

Reichlich mysteriös ist zunächst die Ausgangssituation: Eine Junge war verschwunden, tagelang, irgendwo draußen in der Natur wahrscheinlich. Erklärungen gibt es keine. Nach seiner Rückkehr in die Berliner Wohnung kommt für Astrid, seine alleinerziehende Mutter, der Alltag wieder in Gang. Wie bei einem Rätsel setzen sich die Einzelteile im Familiengefüge erst nach und nach zusammen, in Bildern, Stimmungen und Dialogteilen, die wiederkehren wie ein verzögertes Echo. Der Herbst legt sich über die Stadt, von einem alten Mann kauft Astrid ein gebrauchtes Rad, arbeitet wieder an der Kunsthochschule. Gut gehen tut nichts davon, vor allem nicht die Gespräche. Alle Figuren scheinen verloren in diesem künstlichen Alltag, den wir in langen, bewegungslosen Einstellungen verfolgen und den Schanelec mit Kindern bei Theaterproben durchsetzt: Sie spielen Shakespeares "Hamlet".

All das ist in seiner stillen Verzweiflung und dem unbedingten Stilwillen bisweilen auch etwas anstrengend. Vielleicht erzählt aber gerade die Tatsache, dass viele Zuschauer so schwer daran zu tragen schienen, dass sich Schanelecs Film ganz unverfroren einem klaren Verständnis entzieht, viel über unsere Gegenwart und ihre Unübersichtlichkeit. Gut denkbar, dass sie gerade deswegen am Samstag mit dem Goldenen Bären nach Hause geht.

Interessanterweise ist ihr Film sogar der einzige, bei dem die Frage, die viele Wettbewerbsbeiträge als thematische Grundierung durchzieht, bereits im Titel steht: Was ist das, ein Zuhause? Ist das ein Ort, eine Familie, ein Zustand? Die Summe von Optionen, die einem das Leben mitgibt (oder eben nicht)? Und was ist, wenn ein Zuhause nicht der Ort ist, an dem man bleiben, sondern von dem weg will?

In "La paranza dei bambini" ist dieses Zuhause ein von der Mafia beherrschtes neapolitanisches Altstadtviertel. Claudio Giovannesi erzählt die Geschichte einer jugendlichen Bande, die sich unter Einsatz von viel Leichtsinn, Drogengeld und Schusswaffen die Kontrolle über ihr Viertel erobert. Beeindruckt war man erstens vom Autor Roberto Saviano, der die Romanvorlage schrieb und am Drehbuch beteiligt war und 13 Jahre nach "Gomorrha" auf der Berlinale zwar unter Polizeischutz, aber so ruhig und entschlossen wie eh und je auftrat. Und zweitens von den Laiendarstellern aus Neapel, die mit viel Trotz und Melancholie eine Jugend verkörpern, bei der es mit dem Erwachsenwerden so schnell geht, dass auch der Tod in unmittelbare Nähe rückt.

Im Zentrum steht der 15-jährige Nicola als Anführer, der zunächst nur seine alleinerziehenden Mutter unterstützen und die hübsche Letizia aus dem Nachbarviertel mit den neusten Sneakern beeindrucken will. Als er wenig später seinen ersten Mord begeht, ist das, was sich in den feinen Gesichtszügen des Darstellers Francesco di Napoli abzeichnet, immer noch eher kindliches Stauen als tiefe Verstörung. Immer wieder rauscht er mit seinen Freunden auf knatternden Motorrollern durch die engen Gassen - wie ein Krieger in einem vergifteten Königreich, in dem es nur das schnelle Geld, aber keine Zukunft gibt.

"La Paranza dei bambini" ist ein Film über den Verlust der Unschuld - und über die Frage, ob es einen Ausweg aus diesem Zuhause zwischen Dreck und Tod gibt. Dass die Emotionen sich trotzdem nie so eindringlich auf den Zuschauer übertragen wollen, wie es Savianos Geschichte vermuten lässt, liegt daran, dass der Regisseur zwar schöne Bilder findet, sich aber nicht traut, einige davon aus der Erzählung herausragen zu lassen. Giovannesi folgt seinen Protagonisten eher mit dokumentarischem Ernst als mit ästhetischem Mut.

In einem nicht ganz unähnlichen Mikrokosmos spielt auch der türkische Wettbewerbsfilm "Kız Kardeşler / A Tale of Three Sisters von Emin Alper. Zumindest führt auch in dem abgelegenen anatolischen Bergdorf, in das Alper sein bildstarkes Sozialdrama verlegt hat, für Frauen wie Männer praktisch kein Weg hinaus aus Armut und alten Strukturen. Zu Beginn folgt die Kamera einer Serpentinenstraße, vorbei an schroffe Felswänden. Wie ein Übergang in eine andere Welt führt sie hinauf an einen Geisterort, ein Dorf, das wie ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit zwar vor atemberaubenden Bergen liegt, ansonsten aber eher von Mangel geprägt ist: kein Strom, keine Arbeit, kein besseres Leben, nur die unabänderlichen biografischen Schleifen, in denen Töchter die Fehler der Mütter und Söhne die der Väter wiederholen. Ein Ort wie aus "Hundert Jahre Einsamkeit", an dem die Menschen vor Kummer Kalk und Erde essen.

Im Dorf treffen die Schwestern Reyhan, Nurhan und Havva (die außer der Sehnsucht nach der Großstadt nicht viel mit Tschechows "Drei Schwestern" gemein haben) nach langer Zeit wieder aufeinander. Als moderne Dienstmägde hatte der verwitwete Vater sie zu reichen Familien in die Stadt geschickt. Anders als in den türkischen Dorffilmen des Siebziger sind sie selbstbewusste junge Frauen, die sich trotz Eifersüchteleien in enger Verbundenheit gegen die patriarchalen Machtverhältnisse zu wehren versuchen.

Im Verlaufe eines Tages und einer Nacht, die Emre Erkmens Kamera in poetische Bildern einfängt, breitet Emin Alper das Psychogramm eines Dorfes als Mikrogesellschaft aus. Nach und nach legen sich türkische Familien-, Geschlechts- und Gesellschaftsverhältnissen wie ein dichtes Netz über den Film. Auch wenn es die Männer des Dorfes sind, die bei reichlich Raki am Lagerfeuer die Zukunft der Frauen besprechen: Die Schwestern sind der lebendige Kern eines - trotz aller Ausweglosigkeit - wärmenden Films.

Neben der Präsenz von Regisseurinnen fällt auf, wie stark die Frauenfiguren sind

Überhaupt ist es bemerkenswert, dass es neben dem Bemühen von Festivalchef Dieter Kosslick um Gleichberechtigung bei der Regie (sieben der 16 Filme im diesjährigen Wettbewerb wurden von Frauen inszeniert) auch verhältnismäßig viele starke Frauenfiguren gibt. Neben Teona Strugar Mitevskas "Gospod postoi, imeto i' e Petrunija / God Exists, Her Name is Petrunjia", dem ersten mazedonischen Wettbewerbsbeitrag über eine Frau, die gegen den männerdominierten Kirchenbrauch des Kreuztauchens rebelliert, gilt das vor allem für "Elisa y Marcela", Isabel Coixets Geschichte über zwei Frauen, die im erzkatholischen Galicien um die Jahrhundertwende den mutigen Versuch unternehmen, gemeinsam zu leben - und schließlich sogar unter falscher Identität heiraten.

Zehn Jahre lang hat Coixet nach eigenen Aussagen versucht, die Geschichte, die auf einer historischen Begebenheit beruht, zu verfilmen. Dass sie "Elisa y Marcela" schließlich mit Mitteln des Streaming-Riesen Netflix realisierte, brachte ihr nicht nur bei der Premiere am Mittwoch Buhrufe ein: Bereits am Montag hatten mehr als 160 Kinobetreiber in einem offenen Brief gefordert, den Film außer Konkurrenz zu zeigen, weil keine reguläre Auswertung im Kino geplant ist. Der Kampf um den Kulturort Kino geht also weiter. Auf der Berlinale lenkte er leider von Coixets in wunderschönem Schwarz-Weiß gedrehten Film ab, der auch wegen den beiden Hauptdarstellerinnen überzeugt: Natalia de Molina und Greta Fernández spielen das Liebespaar mit einer so zärtlichen Intimität und Stärke, dass sie zum Favoritenkreis für den Silbernen Bären zählen dürften. Sie erzählen von einer auch nicht neuen, aber immer noch schönen Einsicht: Das Zuhause von Liebenden, das ist der jeweils andere.

© SZ vom 15.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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