Ausstellung "Ego Update":Überinszeniertes Ich

Selfies sind weltweit zu einer Obsession geworden. Aber warum? Eine Ausstellung in Düsseldorf zieht erste Bilanz.

Von Bernd Graff

Im März 2014 unternahm das Time Magazine einen Großversuch zur Analyse von Big Data. Man durchforstete 400 000 Fotos auf der Bildplattform Instagram, die dort mit Geo-Daten und dem Titel "Selfie" abgelegt waren. So wollte man herausbekommen, in welchen Städten weltweit die meisten Selbstporträts mit Smartphones geschossen werden.

Das Ergebnis verblüffte. Denn man stellte fest, dass in der philippinischen Hauptstadt Manila 258 Selbstfotografen pro 100 000 Einwohnern unterwegs waren: Das ist Platz eins. Manhattan folgte auf Platz zwei (202 Fotografen), Miami auf Platz drei (155). Die erste deutsche Stadt landete mit 24 Selfies abgeschlagen auf Platz 136. Aber diese erste Stadt war - Trommelwirbel - Düsseldorf.

Warum fotografieren sich die Menschen ausgerechnet in der nordrhein-westfälischen Metropole so häufig? O.k, München (Rang 184) rangiert erwartbar vor Hannover (Rang 240), welches jedoch nur einen Platz hinter Berlin liegt, aber noch vor Hamburg (Platz 257). Wir lernen: Selfies sind ziemlich rätselhafte Alltagsphänomene. Doch sind sie es nur nach ihrer geografischen Sortierung?

Genau das will eine Gruppen-Ausstellung im NRW-Forum in der Karnevals- und Selfiehochburg Düsseldorf herausfinden: "Ego Update. Die Zukunft der digitalen Identität" heißt sie, 23 Selbstwerk-Künstler zeigt sie, ein ernster Heidenspaß ist daraus geworden.

"Selfie" war für das Oxford English Dictionary 2013 das Wort des Jahres, berühmt wurden ein Selfie mit dem Papst aus dem Jahr 2013 wie das Oscar-Selfie von Ellen DeGeneres mit Hollywoodstars aus dem Jahr 2014. Gerügt wurde Barack Obama 2013, weil er sein Selfie während einer Gedenkveranstaltung für Nelson Mandela schoss, berühmt ist jetzt schon das Flüchtlings-Selfie mit Angela Merkel aus dem letzten Sommer. Justin Bieber drehte ein Musikvideo als Selfie.

"Duckface" und "fish gabe"

Das Online-Magazin Mashable hat Buch geführt: 2015 starben mehr Menschen beim Versuch, ein Selfie zu machen (15), als durch Hai-Angriffe (8). Die Dahingeschiedenen hatten sich auf Klippen und Gleise begeben, sie posierten vor Bären, standen auf Hochhäusern. Das ging nicht gut aus.

Inzwischen knipsen sich die Menschen auch mit einem auf einen Stick montierten Smartphone, um mehr Panorama auf die Ego-Schau zu bannen. Die beiden russischen Fassadenkletterer Vitaly Raskalov und Vadim Makhorov sind inzwischen schon berühmt dafür, vor gähnenden urbanen Abgründen zu posieren.

Ein Viertel aller amerikanischen Führerscheinanfänger fotografiert sich bei der Fahrt selber, was den Autobauer Ford zu der Kampagne brachte: "Lass ein Selfie nicht das letzte Foto sein, das jemals von dir gemacht wurde!", um auf die Straßengefährdung durch Foto-Kids hinzuweisen.

Man fotografiert sich aber nicht nur überall, man fotografiert auch alles von sich. Es gibt Ausdrucksmoden, einstudierte Posen und Körperteilansichten: Auf das "duckface", die Kussschnute, folgt das "fish gabe", die Nachstellung jenes Ausdrucks, den verendende Goldfische auf einem Wohnzimmerteppich machen.

Warum machen die Menschen so etwas?

Man fotografiert pralle Hintern, quellende Brüste, Waschbrettbäuche, Füße, Modelposen - es sind Versuche, idealtypische Katalogansichten von sich herzustellen: Dokumente der perfekten Sexyness, des bedeutenden Muskelspiels und der heroischen Unverwüstlichkeit.

Das erste auch so genannte Selfie zeigte die blutige Lippe eines 2003 gestürzten Australiers. "Sorry about the focus, it was a selfie", notierte er. Entschuldigt die Unschärfe, es ist ein Selfie. Der globale Ego-Reigen beantwortet jedoch nicht die unvermindert brennende Frage: Warum machen die Menschen so etwas? Die banalste Antwort darauf ist vermutlich erst einmal die beste: Weil alle jetzt immer einen Fotoapparat dabei haben, der Autofokus kann.

Zur Düsseldorfer Ausstellung, es ist die erste, die Alain Bieber, der neue Leiter des NRW-Forums, kuratiert hat, ist ein wunderbar zurückgelehnter Katalog erschienen, für den Douglas Coupland einen vorzüglichen Essay verfasst hat, in dem er die Selfies zu einer "Illusion von Selbstkontrolle" erklärt, mit denen "Menschen in die unausgesprochene Idee des Ewig-frisch-und-sexy-Seins zu investieren glauben".

Coupland glaubt, Selfies werden nie mehr verschwinden, im Gegenteil: die Zukunft des Selfie liege im 3-D-Ganzkörper-Druck: "Dieses neue Selfie wird uns noch effektiver ermöglichen, zu posieren und das Modell, dem wir eigentlich zu entsprechen meinen, hervorzubringen - im Gegensatz zu dem, was wir eigentlich sind. Was ist schlimm daran?" Denn, so der Kunstkritiker Jerry Saltz: "Selfies haben schließlich Aspekte der sozialen Interaktion, der Körpersprache, des Selbstbewusstseins, der Privatsphäre und des Humors verändert und Zeitlichkeit, Ironie und unser öffentliches Verhalten umgestaltet."

Die Ausstellung dokumentiert die schier überwältigende Flut an Selfies, die man hier thematisch gegliedert tapetenweise an die Wand gebracht hat: Stinkefinger, Fußfotos, Webcam-Posen. Gleich zum Auftakt sieht man die lakonischen Porträts, die der Magnum-Fotograf Martin Parr überall auf der Welt von ortsansässigen Fotografen von sich fertigen lässt: kitschig, lustig, schräg. Herrlich.

Auch Affen-Selfies fehlen nicht

Unmittelbar an den neuen Ästhetiken und Fotostandards von Plattformen wie Instagram, Pinterest, auch Facebook geschult, folgen dann die Arbeiten der schwedischen Künstlerin Arvida Byström und der Argentinierin Amalia Ulman. Radikaler noch als Byström veröffentlicht sich Ulman als scheinbar perfektes Medien-Imago, das fiktive Shopping-Touren wie schönheitschirurgische Eingriffe mit ihren vielen Followern "teilt". Ihr Weg zum Brustimplantat erhielt dabei so viele Likes wie der Gucci-Bummel.

Der Amerikaner Evan Baden zeigt Teile seiner Serie "Technically Intimate", die nachstellt, was viele Heranwachsende als "Sexting"-Bilder im Netz posten: Gemeint sind intime Selfies in verführerischen Posen mit entsprechenden Texten. Der Niederländer Erik Kessels bringt Tausende Fußfotos farblich sortiert in Reih und Glied, der Italiener Guido Segni hat Vertreter des sogenannten digitalen Proletariats ausfindig gemacht, das im Netz Kleinstarbeiten erledigt: ein klickendes Prekariat, das hier kollektiv den Mittelfinger in die Ausstellung hält.

Natürlich fehlen auch die Affen-Selfies nicht: Ein Affenweibchen hatte den Apparat des britischen Tierfotografen David Slater entwendet und sich selber fotografiert. Um diese Fotos entbrannte der Urheberstreit darüber, wem Tantiemen dafür zustehen: etwa dem Affen?

Mit den Positionen, die die Düsseldorfer Ausstellung dokumentiert, sind mehr Fragen zum digitalen Ich gestellt als beantwortet. Das ist gut so. Denn während die Welt anscheinend in Exhibitionisten und Voyeure zerfällt, in der unersättliche Blicke auf milliardenfache Ich-Belege treffen, wird doch diese eine Instanz immer fragwürdiger: Kann ein derart überinszeniertes Ich noch "ich" zu sich sagen?

Ego Update. NRW-Forum, Düsseldorf. Bis 17. Januar 2016. nrw-forum.de. Katalog 29,95 Euro.

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