Architektur:Blick durchs Blätterdach

Im Pariser Hallen-Viertel ist einer der größten Umsteigebahnhöfe Europas neu gebaut worden. Mit 800000 Passanten täglich ist er ein Eingangstor zur Stadt.

Von Joseph Hanimann

So wie die Liebe geht der Kummer durch den Magen. Der "Ventre de Paris", wie Zola in seinem Roman die zentralen Markthallen neben der Kirche Saint-Eustache nannte, war seit dem Abriss von Victor Baltards berühmten Stahl- und Glaspavillons aus dem Second Empire ein Sorgenkind der Stadtregierung. Im "Hallenloch" war nach 1979 ein Ladenlabyrinth entstanden, das schnell vergammelte. Denn in der Tiefe, noch unter den sich dort kreuzenden U-Bahnlinien, war in den Siebzigern auch der Umsteigebahnhof für die neuen Regionalexpresszüge angelegt worden. Die Station Châtelet-Les Halles ist auf fünf Tiefetagen das unterirdische Eingangstor von Paris und mit fast 800 000 Passanten täglich einer der größten Umsteigebahnhöfe Europas.

Mit einem Architekturwettbewerb sollte im Jahr 2004 der ganze Komplex einschließlich der vier Hektar großen Grünanlage auf dem ehemaligen Markthallenareal saniert werden. Die eingereichten Projekte überraschten durch die Radikalität eines Totalumbaus, vor allem die Vorschläge der Endrunde. Jean Nouvel etwa wollte auf dem Ost-West-Streifen zwischen Centre Pompidou und Palais Royal eine Parkkaskade mit begrüntem Hallendach und angegliedertem Freibad anlegen. Rem Koolhaas schlug vor, bunte Glastürme aus den unterschiedlichen Tiefenschichten des Orts emporwachsen zu lassen. Der damalige Bürgermeister zögerte. Er wollte die seit dem Hallenabriss verschreckte Bevölkerung nicht aufs Neue schockieren und entschied sich dann für den bravsten Entwurf, den des Architekten David Mangin. Übernommen wurde von diesem aber nur die Parkgestaltung. Für die Einkaufspassage sowie den Métro- und Regionalzugbahnhof wurde ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben, aus dem 2007 das Architektenduo Patrick Berger und Jacques Anziutti als Sieger hervorging. Am 5. April wird ihr Werk von der Bürgermeisterin eingeweiht.

Die Lichtqualität unter dem durchhängenden Glasdach ist das Meisterstück dieses Baus

Der 1947 geborene Berger, der vor allem in Paris gebaut hat, ist der Bescheidenste unter Frankreichs Architekturprominenz. Das Projekt war wie gemacht für diesen Mann, der zwar in jungen Jahren bei Frei Otto zeichnete, selbst aber keine großen Visionen zu verkünden hat und lieber mit dem Bleistift kleinformatige Kurven und Schlaufen aufs Papier kritzelt. Zum Beispiel die Kraftlinien und Kraftfelder am jeweiligen Ort. Schauen Sie, sagt er bei der Besichtigung und fängt schon wieder zu zeichnen an. Es seien die Linien der waagrechten und senkrechten Bewegungsströme der Passanten, der Windrichtung, der Lichteinfälle und grandiosen Sichtachsen, der Lastenverteilung bis zu den Grundpfeilern fünf Etagen tiefer, die Kraftlinien auch der langen Geschichte des Orts, an dem schon im Mittelalter die Marktbuden und Marktschreier sich drängten. All das will der Architekt unter dem gewundenen Glaslamellendach von fast hundert Metern stützenloser Spannweite gebündelt sehen, als hätte nicht er, sondern die Formökonomie der Natur das selber gezeichnet.

"Canopée", das Blätterdach, nennt der Architekt die leicht durchhängende Glasdecke, die man aus der Tiefe auftauchend hoch über seinem Kopf nicht gleich wahrnimmt, die einen aber sofort in ein breit flutendes und zugleich gedämpftes Licht hüllt. Diese Lichtqualität aus blassem Gelb ist das Meisterstück dieses Baus. Alles ist Windung und Wölbung an ihm. Durch die je nach Position stets wechselnden Lamellenöffnungen scheint tatsächlich wie bei einem Blätterdach der Himmel durch. Wenn es regnet, fließt das Wasser über eine Traufrinne jeweils am unteren Rand der Schräglamellen der mittleren Dachmulde zu und ergießt sich von dort wie ein gewaltiger Wasserfall in Richtung Park. Die Konstruktion, die im nördlichen und südlichen Seitenflügel auf drei Etagen das städtische Musikkonservatorium und andere Kultureinrichtungen beherbergt, sucht großzügig, aber nicht großsprecherisch, urbane Öffentlichkeit, Massendurchlauf, Sammelplatz, Flaniermeile und Ort des Müßiggangs in einem zu sein. Fragt sich nur, wie die Tausende Dahinhastenden und die Müßiggänger auf den breiten Treppenkaskaden aneinander vorbeikommen werden.

Übersichtlichkeit war ein Hauptkriterium fürs ganze Projekt, denn das frühere Hallen-Viertel war mit seinen toten Winkeln zu einem Lebensraum für Obdachlose geworden. Besonders klar zeigt sich das Prinzip der Übersichtlichkeit in den vertieften Geschäftsetagen unter der "Canopée". Was oben organisch sich wölbt, schlägt dort jäh in rechte Winkel und Quaderformen um. An diesem Ort, wie auch im Bahnhofsbereich, der die zweite Phase des Hallen-Umbaus ausmachen wird, soll umgestiegen, gekauft, bezahlt und dann bitte zügig weitergegangen werden.

Die Verdoppelung unseres Stadtraums in Ober- und Unterseite bemüht sich heute gern um Tageslichteinfall bis in die tiefsten Etagen. Das war bei den vor vierzig Jahren eingezogenen durchgehenden Spannbetonböden mit festem Pfeilerraster in Châtelet-Les Halles nicht möglich. Mit ihrem Blätterdach haben aber Berger und Anziutti am Übergang zwischen oben und unten ein schönes Zeichen gesetzt. Wachsen die Bäume oben nicht in den Himmel, so sind wir auch in der Tiefe nicht zum Maulwurfsdasein verdammt.

Die Röhrenlogik der frühen Moderne für unterirdische Bewegungsabläufe ist schon in den Siebzigern aufgegeben worden. Mit Funktionalität, Übersichtlichkeit und etwas Design ist es dort allerdings nicht getan. Wir Untergrundnomaden wollen auch im abstrakten Raum unseres Streckenplans an bestimmten Orten ankommen, uns umschauen, verweilen, wieder abfahren. Tiefbau verlangt nach einer eigenen Topografie. Paris ist auf gutem Wege dazu. Denn wer ins Blätterdach blinzelt, soll auch dem Wurzelbereich des Stadtraums Guten Tag sagen dürfen.

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