American Gothic:Versinken im Morast

Game of Thrones Lord Ned Stark

Auch hier geht's am Ende um Transzendenz: Lord Eddard "Ned" Stark (Sean Bean) in der Serie "Game of Thrones".

(Foto: HBO)

Was die Heavy-Metal-Band "Mastodon" mit gotischer Architektur und der Fernsehserie "Game of Thrones" verbindet? In den USA greift American Gothic um sich - das umfasst alles, was nicht der Wilde Westen ist.

Von Peter Richter, New York

Der an der University of Iowa lehrende Kunsthistoriker Robert Bork hat vor ein paar Jahren in einem Aufsatz über "Gotische Architektur, Geometrie und die Ästhetik der Transzendenz" ein paar bemerkenswerte Gedanken zu Dinosauriern und Heavy Metal geäußert. Der Umstand, dass Bork als Kind Saurier mochte und als Jugendlicher gleichermaßen von der Kathedrale in Reims fasziniert war wie von Bands mit wuchtigen Gitarren, führte ihn zu der Frage nach der inneren Verwandtschaft dieser ästhetischen Präferenzen, und die Antwort beginnt schon mit den Ähnlichkeiten in der Rezeption.

Das Urteil der italienischen Renaissance über den vermeintlich barbarischen Baustil aus dem Norden korrespondiert hier einerseits mit dem alten Verdikt, die Saurier seien schon aufgrund ihrer Primitivität nicht modernisierungsfähig gewesen, andererseits mit der immer noch oft zu hörenden Ansicht, dass Metal ein Druckablassventil für bierbäuchige Kindsköpfe sei, keinesfalls aber Musik auf allerhöchstem Niveau.

Mastodonten waren die Mammuts Amerikas - und so massiv klingt auch diese Musik

Dabei zielten Bork zufolge der Metal wie auch der Kathedralenbau auf nicht weniger als Transzendenz - es geht um die Flucht aus dieser Welt, es geht hinein in die Dimensionen von Himmel und Hölle. Die Mittel zu diesem Zweck seien ebenfalls die gleichen: Virtuosität und Komplexität. Virtuosität ist demnach der gemeinsame Nenner, der ein Gitarrensolo von K. K. Downing mit der Turmspitze des Straßburger Münsters verbindet; Überdehnung und Verzerrung sind Dinge, die sich mit den Maßstäben von Kirchenräumen genauso veranstalten lassen wie mit dem Klang von elektrischen Gitarren.

Die alte Diskussion darüber, ob das Bonmot von der Architektur als gefrorener Musik - und von der Musik als geschmolzener Architektur - nur ein "keckes Witzwort" ist, wie Schopenhauer meinte, oder tatsächlich strukturelle Verwandtschaften entbirgt, ist damit wieder einmal eröffnet. Und sie geht einem doch gehörig im Kopf herum, wenn man jetzt "Once More Round The Sun" in den Händen hält, das neue Album von Mastodon.

Mastodonten waren die amerikanische Variante der Mammuts, sie sind vor 9000 bis 12 000 Jahren ausgestorben - keine Saurier, aber doch ziemlich dicht dran. Der Transzendenz-Effekt des Prähistorischen, des zeitlich Inkommensurablen, ist mindestens so stark wie der des Blasphemietricks, mit dem Bandnamen wie Judas Priest oder Black Sabbath operieren. Der Name Mastodon vermittelt außerdem recht gut, wie die Musik der Band klingt: schwer, massiv und festfleischig.

Die vier Männer aus Atlanta in Georgia, alle jetzt um die vierzig, sind vom amerikanischen Metal-Altadel aus Metallica und Slayer schon vor Jahren als einzig würdige Thronerben ausgerufen worden, wobei die Frage ist, ob Heavy Metal nicht ein viel zu kleiner Begriff ist für das, was diese Band tut. Freunde des Prog Rock von King Crimson sind inzwischen genauso gut bei Mastodon-Konzerten aufgehoben wie sogar Jünger von Karl-Heinz Stockhausen: Schütteln des Haupthaars oder gar Tanz sind da schon aus purer Angst, etwas zu verpassen - eine Rhythmuseskapade, eine Harmonie-Attacke, einen Übergang von Wolfsgeheul zu quasigregorianischem Satzgesang - gar kein Thema; es sind ehrfürchtige Andachten im Geräusch, Bestuhlung wäre angemessen.

Etwas Epischeres ist nicht vorstellbar

Mastodon sind musikalisch ganz sicher eine der anspruchsvollsten Bands der Gegenwart. "Blood Mountain" von 2006 galt Fachjournalisten zu Recht als "starker Anwärter auf das Album des Jahrzehnts", und "Crack The Skye" von 2009 war mindestens das Album des Jahrtausends: Etwas Epischeres ist nicht vorstellbar. Denn wenn es das wäre, hätten Mastodon es ja gemacht. Die aber haben danach die manchmal fast ins Elegische ausgreifenden Enden ihrer Musik gewissermaßen nach innen gekrempelt und mit "The Hunter" zuletzt eine Platte veröffentlicht, die erstmals kein Konzeptalbum sein wollte, sondern ganz Konzentrat.

Vorher ging es um mystische Sphären, ums Meer, den Berg, Zarentod, danach ging es nur noch um Musik, Textebene vergleichsweise egal. Das Artwork zu all diesen Veröffentlichungen verriet immerhin ähnliche Leidenschaften, wie sie Robert Bork für die gotische Architektur beschreibt, einen Sinn für Blicke ins Kaleidoskop und für geometrische Unendlichkeiten, der durchaus sein Echo auch in der Musik findet.

Blubbernder Ursuppen-Comic

Und jetzt eben: "Once More Round the Sun", die wichtigste Metal-Veröffentlichung des Jahres; im Auskennerland Finnland bereits jetzt Platz 1 der Album-Charts, in den USA immerhin Platz 6. Auf dem Cover lacht einen ein freundliches Monstrum aus Tomaten und Grünzeug an, gleichermaßen Pop-Arcimboldo, blubbernder Ursuppen-Comic und Drogenphantasie aus mit LSD getränkten Mandelbrot-Frakalen.

Das sieht irritierend komisch aus. Komik und Transzendenz, das ist aber so eine Sache. Nun ist es nicht so, dass es "Once More" an Gewicht fehlen würde, im Gegenteil, es ist ein großes, dunkel grollendes Meisterwerk, gerade im zweiten Teil der Platte, mit einem hyperaktiven Schlagzeug, strickmaschinenhaftem Riffing und dem erkennbaren Willen, den Metal in eine Welt nach dem Metal zu überführen. Aber zwischendurch johlen einen eben auch die Anfeuerungsgesänge von Cheerleadern an, oder Refrains versichern mit der optimistischen Süße von Pop-Songs: "This time, this time, things 'll work out just fine."

Die Single "High Road" legt es mit einer Hochglanz-Hookline ganz offensichtlich sogar darauf an, der erste locker vor sich hin pfeifbare Sommerhit aus dem Reich des Progressive Metal zu werden. Man müsste zu Spezialphänomenen wie der barocken Sondergotik greifen, um hier einigermaßen im Analogie-Rahmen von Robert Bork zu bleiben. Anderseits gab es in der spätgotischen Kunst aber immerhin auch einen Hang zur Schönlinigkeit, den man den "weichen Stil" genannt hat. Man merkt darüber fast gar nicht, dass das Lied eigentlich eine einzige Beschimpfung ist.

American Gothic - das begann mit Nathaniel Hawthorne, Edgar Allen Poe und H. P. Lovecraft

Das Video, das zu "High Road" veröffentlicht wurde, ist auf jeden Fall eine seltene Mischung aus Selbstbezüglichkeit und -ironie. Man sieht die oft beschworenen Theaterwelten des Heavy Metal: Ritter, Wälder, Entscheidungskämpfe mit Axt, Schwert und Morgenstern.

Alles, was nicht der Wilde Westen ist

Man sieht aber auch den Protagonisten, einen pickligen Brillenträger, geschlagen und gedemütigt nach der Freizeitschlacht mit seinem Gummischwert nach Hause ziehen in die amerikanische Suburbia, wo ihn sein Großvater, ganz Rocky-mäßig, in der Garage fit macht für den nächsten Kampf mit den Kostümierten im Wald. Er wird ihn, natürlich, gewinnen. Aber die anderen werden sich rächen, ganz unritterlich und auf dem Parkplatz. Klassische Americana und europides Mittelalterspektakel - ist das jemals so hübsch zusammengepackt worden? Höchstens noch in der Fantasy-Serie "Game of Thrones", die deshalb wahrscheinlich auch so ein Welterfolg ist: das Nibelungenlied Amerikas, geschaffen aus dem Pathos-Blut-und-Sex-Bedarf der Fernsehgegenwart.

Das ist eine Art von Heavy Metal, die noch nicht einmal wirklich Europas Kathedralen als Gegenüber braucht; amerikanische Gotik ist gewissermaßen befreit von der Faktizität historischer Überbleibsel. Der Begriff ist am Ausgang des Mittelalters geprägt worden, um das Mittelalter zu diffamieren. In der herkömmlichen Ordnung unserer Epochenbegriffe enden Mittelalter und Gotik aber exakt da, wo Amerika "entdeckt" wird. Die beiden schließen sich gegenseitig aus, und das macht sie wunderbar frei.

Gotik immer wieder neu entdecken

Amerika, speziell Nordamerika, hat viel Zeit gehabt, sich seinerseits immer wieder eine neue Gotik zu entdecken, und zwar hinreißend ungebunden an das, was ursprünglich mal damit gemeint war. American Gothic - das war Nathaniel Hawthorne, das war Edgar Allen Poe und das war H. P. Lovecraft, das waren literarische Strebepfeiler ins Unheimliche; American Gothic heißt das Gemälde von Grant Wood mit dem Bauernpaar im Mittelwesten, wo selbst die Forke bigott und bedrohlich in den Himmel ragt. Und eine sehr amerikanische Gotik wird da aufgeführt, wo bärtige junge Männer in den Kostümen von "Game of Thrones" oder "Herr der Ringe" mit Schaumstoffwaffen aufeinander eindreschen.

American Gothic ist alles, was nicht der Wilde Westen ist. Es ist Amerikas Komplementärmythos, und der zielt nicht auf die Eroberung der Horizontalen, seine Blickrichtung ist senkrecht, und zwar am liebsten nach unten: Der Blick im Wilden Westen sieht trockene Wüsten, die es zu überwinden gilt. Der gotische Blick sieht den moralischen Morast, in dem das, was man zu haben glaubt, permanent zu versinken droht. Southern Gothic ist, so gesehen, nicht nur ein in den Südstaaten angesiedeltes Subgenre der Gruselliteratur, es ist vielleicht auch ein kultureller Bewusstseinszustand in diesem permanent den eigenen Untergang bewirtschaftenden Teil der USA.

Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass die radikalste Antwort auf den sonnengetrockneten Rekordgeschwindigkeits-Metal Kaliforniens aus den Sümpfen Louisianas kam und ganz einfach "Sludge" hieß, Schlamm. Es ist das, womit auch Mastodon einst angefangen hatten. Und sogar ganz sicher ist es kein Zufall, dass die Fernsehserie, die dieser bösartig schleppenden Musik noch besser entspricht als alle Staffeln von "Game of Thrones" zusammen, nirgendwo anders spielt als hier: "True Detective" ist so Heavy Metal wie eine Fernsehserie das nur sein kann, vom fragwürdigen Frauenbild über die gelebte Härte bis zu all der ins Diabolische und Sexuelle gewendeten Spiritualität. Der Vorspann, eines der größten Kunstwerke der Fernsehgeschichte, lebt ganz vom Kontrast dieser dunkel hypnotischen Welt mit dem trockenen Countrysong "Far from any Road" der Handsome Family.

Falls aber kommende Staffeln mal einen neuen Abspann brauchen, empfiehlt sich ab sofort auch "Diamond In The Witch House", das Finale des neuen Albums von Mastodon - "Don't bleed us and leave us to ourselves / We will return so deeply harmed, and we will shatter you" - mit dem ausgefächertsten Gitarren-Delta diesseits des Mississippi und des Deckengewölbes von Reims.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: