Aktion an der Schaubühne:Globale Missstände und Massaker im Fünf-Minuten-Takt

Generalversammlung

Das Globalparlament tagt: Plenarsitzung an der Schaubühne.

(Foto: Daniel Seiffert)

Der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau beruft an der Berliner Schaubühne ein Weltparlament ein. Kann das funktionieren?

Von Anna Fastabend, Berlin

Es ist eine schöne Utopie mit Rissen, die der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau mit seinem Weltparlament "General Assembly" am Wochenende an der Berliner Schaubühne präsentiert hat. Drei Tage lang standen diejenigen im Mittelpunkt, die unter Krieg, Vertreibung, Ausbeutung und Umweltzerstörung leiden. Eine sprach- und machtlose Mehrheit, die, so Raus Utopie, wieder selbst über ihr Leben entscheiden soll. Probeweise im Theater, vertreten von mehr als 60 Menschen aus der ganzen Welt.

Die Abgeordneten, unter ihnen Anwälte, Aktivisten und persönlich Betroffene, traten nicht nur für menschliche Anliegen ein, sondern auch für die Bienen der Provence, die Weltmeere und vieles mehr. Ein größenwahnsinniges, aber auch ermutigendes Experiment, das mit einem symbolischen "Sturm auf den Reichstag" am Dienstag endet.

Optisch wird den Zuschauern während der Eröffnung, den fünf Plenarsitzungen und dem Abschluss im Theatersaal nicht viel geboten: Es gibt nicht mal ein halbrundes Plenum. Die Weltparlamentarier sitzen in den ersten Reihen des Zuschauerraums. Auf der Bühne unter einem leuchtend roten Banner Präsidentin Khushi Kabir, die sich im normalen Leben gegen Shrimps-Farmen in Bangladesch einsetzt, und ihre zwei Stellvertreter. Daneben ein Rednerpult, ein Stenografenplatz, links und rechts Monitore, Übersetzerkabinen.

Der Ablauf der dreistündigen Sitzungen ist nüchtern, formalisiert, anstrengend. Parlamentspolitik halt. Dafür sind die Debatten, in denen es um diplomatische Beziehungen, Sanktionen und Krieg, Regulierung der globalen Wirtschaft, Migration und Grenzregime, Kultur und Umwelt geht, um so hitziger. Die Abgeordneten verteidigen ihre Anträge so leidenschaftlich oder halten so wütende Gegenreden, dass die deutschen, englischen und französischen Simultanübersetzer manchmal kaum nachkommen.

Vieles wirkt echt, so dass man streckenweise vergisst, dass alles in erster Linie nur Fiktion ist. Allerdings eine Fiktion, nach der sich offenbar viele Menschen sehnen. Die Veranstaltungen sind während der drei Tage fast immer ausverkauft. Sie werden an mehreren europäischen Theatern und im Internet live übertragen und sollen im Netz anschließend abrufbar sein.

All die geschilderten Gräueltaten erschüttern den Glauben an Rechtsstaatlichkeit

Was man während dieses Wochenendes erfährt, ist hochinteressant, in seiner Fülle und Komplexität aber nur schwer auszuhalten. Es ist von derartigen Gräueltaten die Rede, in die multinationale Konzerne und Regierungen verstrickt sind, dass der Glaube an Rechtsstaatlichkeit und funktionierende globale Institutionen erschüttert wird. Mehr als es jede Nachrichtensendung vermag, zeigt diese Zusammenkunft, wie sehr die globalisierte Welt aus den Fugen geraten ist, wie sehr alles mit allem auf fatale Weise zusammenhängt.

Der Brasilianer Lúcio Bellentani, ein kräftiger Mann mit weißen Haaren und Schnauzer, erzählt mit Tränen in den Augen, wie er 1972 während der Militärdiktatur an seinem Arbeitsplatz bei Volkswagen Brasilien verhaftet und 60 Tage lang gefoltert wurde: "Mir wurden mehrere Zähne ausgeschlagen, und ich habe Elektroschocks bekommen." Sein Vergehen: Er wollte die Arbeitsbedingungen im VW-Werk verbessern und organisierte ein Gewerkschaftstreffen. Er und seine Leidensgenossen kämpften bisher erfolglos um Wiedergutmachung, berichtet er.

Wer säße in einem realen Weltparlament?

Einen anderen Fall schildert Feri Irawan, der sich gegen die Vernichtung der Regenwälder auf Sumatra einsetzt. Er berichtet davon, wie große Firmen Millionen Hektar Land zerstörten, um dort mit der Unterstützung von europäischen und deutschen Regierungsprogrammen Palmölplantagen zu errichten. Dürren und Waldbrände entstanden, Bauern wurden enteignet, vertrieben und versklavt, nur damit Europäer Seife und Nutella kaufen können. "Um all das zu stoppen, braucht es faire und klare internationale Gesetze", sagt Irawan, dem die bisherigen Sanktionen - wie den meisten Abgeordneten im Raum - nicht reichen. Auch deshalb wollen sie in den nächsten Wochen eine "Charta des 21. Jahrhunderts" veröffentlichen.

So eindrücklich dieses Weltparlament ist, so schnell werden seine Schwächen deutlich. Im Fünf-Minuten-Takt hört man vom Massaker an streikenden Minenarbeiten in Südafrika, von Kindesmissbrauch in einer deutschen Sekte in Chile, von unzähligen Toten bei einem Brand in einer pakistanischen Textilfabrik. Zeit, mehr zu erfahren oder das Gehörte zu verarbeiten, bleibt nicht. Diskussionen im Anschluss werden nach vier Minuten beendet. Auch die Zusammensetzung des Parlaments ist problematisch, da zum Teil willkürlich. Natürlich hat jedes Anliegen Relevanz, zugleich aber gäbe es sicher unendlich viele andere, die ebenso gut zur Sprache kommen könnten.

Um die deutsche Politik zu beteiligen, hat Milo Rau Abgeordnete des Bundestages eingeladen. Der Einladung sind acht Parlamentarier gefolgt. Nur von der CSU und der AfD wollte niemand mitmachen. Um eine möglichst große Meinungsvielfalt abzubilden, hat Rau auch Personen dazu gebeten, die er selbst als Antagonisten bezeichnet, weil sie sich gegen eine nachhaltige und pluralistische Welt aussprechen. Darunter ein Vertreter genmanipulierter Landwirtschaft, ein rechtsgerichteter russischer Verleger und der AKP-Anhänger Tugrul Selmanoğlu, der die Toleranzgrenzen der Parlamentarier strapaziert.

Den deutsch-türkischen Schriftsteller Doğan Akhanlı, der auf türkisches Betreiben monatelang in Spanien festgehalten wurde und in Berlin nun als einer der Abgeordneten auftritt, betrachtet Selmanoğlu als einen zu Recht von der Türkei angeklagten Mann. Außerdem will er den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennen, wofür er den Saal verlassen muss.

Wie sähe es dann erst in einem realen Weltparlament aus, in dem Spanier und Katalonier, Türken, Armenier und Kurden und andere verfeindete Gruppen zu Beschlüssen kommen müssten? Würden sie dort dieselben Grabenkämpfe führen wie auf nationalstaatlicher Ebene oder könnten sie sich auf neutralem Boden anders begegnen? Nach welchen Kriterien würden die Abgeordneten gewählt? Und welche Mittel stünden der in diesen Tagen oft zitierten transnationalen demokratischen Instanz zur Verfügung, wenn ihre Entscheidungen missachtet würden?

Fragen über Fragen, auf die an diesem Wochenende noch am ehesten die französische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe eine Antwort hat. Sie begleitet als eine von sieben politischen Beobachtern die Sitzungen des Weltparlaments und weist darauf hin, dass universelle Ansätze die Gefahr beinhalten, dass die dominanteren Kräfte ihre Macht missbrauchen. Wenn überhaupt, müsse sich ein solches Parlament der Marginalisierten von unten aus regionalen Versammlungen heraus nach oben entwickeln, findet sie.

Aber vielleicht ist es auch gar nicht so schlimm, dass bei der "General Assembly" vieles nur angedeutet wird. Schließlich handelt es sich nur um ein Experiment. "Sie ist ein utopischer Entwurf, wo Debatten geführt wurden, die woanders nicht stattfinden", sagt Milo Rau zum Abschluss. Es wäre ein Grund für - ja doch auch anmaßende - außerparlamentarische Ersatzpolitik wie diese. Denn so kann sich ziviler Widerstand bilden, der die Lösung nicht im Nationalismus sucht, sondern für eine länderübergreifende Zusammenarbeit plädiert.

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