Das Jahr, das bleibt:Welttheater zum Frühstück

Das Jahr, das bleibt: Willy Brandt am Jahreswechsel 1972/1973 mit deutschen Touristen auf Fuerteventura, nach dem gescheiterten Misstrauensvotum und seiner Wiederwahl.

Willy Brandt am Jahreswechsel 1972/1973 mit deutschen Touristen auf Fuerteventura, nach dem gescheiterten Misstrauensvotum und seiner Wiederwahl.

(Foto: Heinrich Sanden/picture-alliance/ dpa)

Aufgeregtes 1972: Wie der Konservative Golo Mann an der Seite des Sozialdemokraten Willy Brandt stand.

Von Gustav Seibt

Vor genau einem halben Jahrhundert, im Jahr 1972, erlebte die Bundesrepublik eine besonders aufgewühlte Zeit. Der Streit um die von Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler, und seinem liberalen Außenminister Walter Scheel vorangetriebene "Ostpolitik" strebte seiner Entscheidung entgegen. Die 1970 mit den kommunistischen Regierungen in Moskau und Warschau geschlossenen Verträge sollten endlich vom Bundestag ratifiziert werden. Diese sogenannten Ostverträge bekundeten Gewaltverzicht und versprachen friedliche Zusammenarbeit. Ihr eigentlicher Sinn aber war die Anerkennung der nach 1945 entstandenen Grenzen, einschließlich der Oder-Neiße-Grenze.

Das bedeutete die faktische Anerkennung der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Bonner Republik, die dabei für das gesamte deutsche Volk zu handeln beanspruchte - die DDR hatte die polnische Westgrenze selbstredend nie infrage gestellt. Man muss sich klarmachen, dass 1970 das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Vertreibungen von Millionen Deutschen aus den vormals preußischen Ostgebieten kaum weiter zurücklag als heute der 11. September 2001. Diese Vergangenheit war schmerzhaft nah, die Vertriebenen als eigene Bevölkerungsgruppe überaus präsent. Es gab noch unverheilte Verlustgefühle, tiefe Kränkungen, Sehnsüchte nach verlorener Heimat. Wer mit dem Sprachgebrauch der DDR von "Umsiedlern" sprach, wie Arno Schmidt, provozierte und verletzte.

Die Abwahl des Kanzlers scheiterte - aus der DDR war Geld geflossen

Darum gab es Diskussionen in der bundesdeutschen Gesellschaft, deren Schärfe bis in die Familien reichte. Niemand sprach damals von "Spaltung der Gesellschaft", doch war viel Unversöhnlichkeit zu spüren zwischen Befürwortern und Gegnern der "Ostpolitik". Die ohnehin knappe Mehrheit der sozialliberalen Regierung schmolz in den Wochen vor dem Ratifizierungstermin am 17. Mai 1972 durch spektakuläre Übertritte von Abgeordneten beider Regierungsfraktionen zur Union so zusammen, dass ein "konstruktives Misstrauensvotum" nach den Vorgaben des Grundgesetzes möglich zu sein schien: Abwahl des Kanzlers durch Neuwahl eines neuen Kanzlers. Dies scheiterte am 27. April 1972 zur allgemeinen Überraschung durch Abweichler in der Union - später kam heraus, dass dabei Geld geflossen war, auch aus der DDR.

Was für eine Dramatik: Zwanzig Monate Dauerstreit im Land, Austritte aus den Regierungsparteien, Abweichler bei der Opposition, alles knapp, alles am seidenen Faden. Die Rettung von Brandt und Scheel hing an zwei Stimmen. Zwar konnten dann die "Ostverträge" ratifiziert werden, ebenfalls mit knapper Mehrheit, doch die sozialliberale Regierung sah sich so geschwächt, dass sie für November vorgezogene Bundestagswahlen ansetzte, die zur Abstimmung über die Ostpolitik insgesamt wurden. Warum erst im November? Weil im Sommer erst noch die Olympischen Spiele in München unbelastet von einem Wahlkampf stattfinden sollten - ein Termin von nationaler Bedeutung, weil er als Kontrapunkt zu den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin konzipiert war. Brandt siegte und konnte sein Werk mit dem heikelsten Teil abschließen, einem "Grundlagenvertrag" mit der DDR.

Er lief auf die faktische Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit hinaus, ohne die Rechtsposition der Bundesrepublik mit Blick auf eine spätere Wiedervereinigung zu opfern. Immerhin wurden nun Besuchs- und Reisemöglichkeiten zwischen den zwei Deutschländern eröffnet, auch sonst begann allerlei niedrigschwellige Zusammenarbeit. Natürlich war auch dieser Vertrag Gegenstand heftigen Streits, der zuletzt vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen wurde. Dessen strenge Auslegung des Vertragstextes spielte dann 1989/90 noch einmal eine Rolle, als die Wiedervereinigung in rechtliche Form gebracht wurde. All das markierte eine Zäsur im nationalen Selbstverständnis, die von allen politisch bewussten Zeitgenossen empfunden wurde.

Niemand, der halbwegs lese- und hörfähig war, konnte sich der Erregung entziehen

Epische Redeschlachten im Bundestag, scharfes, oft verbittertes Kommentieren in der Presse begleiteten diese Monate. Niemand, der damals schon halbwegs lese- und hörfähig war, also auch halbe Kinder nicht, konnte sich dieser Erregung entziehen. Wer heute Anfang sechzig ist, dürfte damals erstmals mit Politik in Berührung gekommen sein - so ging es jedenfalls dem Verfasser dieses Artikels. Bundestagsdebatten liefen live im Bayerischen Rundfunk, die Süddeutsche Zeitung, der neuen Politik Brandts gegenüber gewogen, regte die Eltern auf, die wie viele damals glaubten, man habe mit den "Ostverträgen" zu viel aufgegeben und zu wenig bekommen.

Rundfunk, zwei Fernsehprogramme, eine Zeitung auf Papier - das war damals das Medienmenü einer durchschnittlichen Familie. Im Bildungsbürgertum wurde das Fernsehen auch noch gern ausgelassen: Bei Umfragen in der Schule erwies sich, dass ein Drittel der Elternhäuser keinen Fernsehapparat hatte. Gut, das war am humanistischen Gymnasium, also kaum repräsentativ. Viel später, nach der Wiedervereinigung, konnte man sich kühl rühmen, man sei ebenfalls ohne Westfernsehen aufgewachsen, und das in München.

Das war das von heute aus gesehen unfassbar überschaubare Meinungsumfeld, in dem einzelne Stimmen ein kaum noch vorstellbares Gewicht hatten. Eine solche Stimme war der Historiker Golo Mann, der berühmte Sohn von Thomas Mann, der damals mit seiner Wallenstein-Biografie den Gipfel seines Ruhms erreicht hatte - ein tausendseitiger Wälzer, der sich bestens verkaufte und seitenlang rezensiert wurde. Seine "Deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert" bot die Vorgeschichte der aktuellen Auseinandersetzungen, in die er, ein manischer Schreiber, auf vielen Foren eingriff.

Das Jahr, das bleibt: Wichtigster konservativer Unterstützer von Brandts Ostpolitik: der Historiker und Publizist Golo Mann.

Wichtigster konservativer Unterstützer von Brandts Ostpolitik: der Historiker und Publizist Golo Mann.

(Foto: imago/United Archives)

Eines davon war die Süddeutsche Zeitung, in der Golo Mann von Weihnachten 1970 bis Juli 1972 ein "Politisches Tagebuch" führte, im Kasten mit Bild, im Politischen Teil, jeweils vorne auf der ersten Seite angekündigt. Elf längere Beiträge, jeweils eine viertel Seite lang, erschienen in dieser Zeit. Und alle waren sie Ereignisse.

Golo Mann war nämlich der wichtigste konservative Unterstützer von Brandts Ostpolitik. Dass linke Literaten wie Günter Grass oder Walter Jens sie befürworteten, beeindruckte das Bürgertum, zumal in München, wenig. Aber Golo! Der war ja auch Bismarck-Bewunderer, geadelt durch Familie und Emigration, als Schriftsteller viel populärer als die meisten Romanciers. Im Revoltejahr 1968 hatte ausgerechnet er den Büchnerpreis erhalten, mit Studenten stritt er sich gereizt in Podiumsdiskussionen herum, sein aus der Zwischenkriegszeit mitgebrachter Antimarxismus war unbezweifelbar.

Und doch focht er für die Verträge Willy Brandts! Nein, kein freudiges Ereignis seien sie, "nur der melancholische Schlußstrich unter einen längst geschriebenen Text". "Der Vertrag schafft nichts Endgültiges, das war schon vorher da, aber er spricht es aus." Die Bitternis der Älteren über Heimatverlust - "ja, wer den nicht mitempfände. Aber schließlich ist der Verlust einer, an dem jeder teilhat, der teilhat am deutschen Kulturkreis. Schließlich sind wir alle, die jene Zeiten bewußt erlebt haben, von ihnen gezeichnet. Schließlich werden wir alle immer noch vertrieben, Jahr für Jahr."

Wie klug war diese Trauer, die den Gegnern ihr Recht ließ! Trotzdem: "Das alte blutige Spiel mit den Staatsgrenzen hat sein Ende gefunden."

Machtpolitischer Realismus und historische Melancholie: Golo Mann setzte den Ton

Damit war 1970 der Ton gesetzt, der machtpolitischen Realismus mit historischer Melancholie verband. Mit dieser Mischung konnte Golo Mann immer wieder sehr unangenehme Wahrheiten aussprechen, so die Vergeblichkeit des Verlangens an die DDR, den Schießbefehl an der Grenze auszusetzen. "Da die DDR einmal da war, da sei, leider, so und so konstituiert war, brauchte die die Mauer (...). Die Mauer hätte diese Wirkung nicht, hätte man sie in vergleichsweiser Sicherheit überklettern können." Peter Hacks hätte es nicht kälter sagen können.

Kern der Verträge sei nicht der "Gewaltverzicht", sondern "die Unverletzlichkeit der Grenzen", also die Anerkennung der Realitäten, hielt Golo Mann der konservativen Opposition immer wieder vor. Die vorgeblichen Realisten blamierten sich mit Illusionen, wie Mann in einer ätzenden Detailkommentierung einer Bundestagsdebatte im April 1972 festhielt. Für ihn war der Widerstand nur "Welttheater", dabei hatte das Misstrauensvotum noch gar nicht stattgefunden. Das Wichtigste hatte Golo Mann schon 1971 gesagt: Mit den Verträgen holte Bonn nur nach, was die westeuropäischen Länder längst getan hatten. Die Bundesrepublik beseitigte damit auch einen Stein auf dem Weg zur europäischen Vereinigung. Und Ende 1972 das Resümee: "Der Friede, der in Europa sich abzeichnet, beruht darauf, daß hier beide Machtblöcke alle die Jahre und dem Schein zum Trotz sich defensiv verhielten."

Süße Wonne, mit solchen Zitaten gerüstet dem darüber wenig amüsierten Vater politisch widersprechen zu können! Die Gegenautorität lag am Frühstückstisch, sie war hervorgehoben mit Bild und Kasten. Ohnehin ist in mancher Biografie der Tag, an dem man den Eltern zum ersten Mal politisch entgegentritt, ein wichtiges Datum - jedenfalls damals, als es noch etwas autoritärer zuging. Ruhm aber einer Zeitung, die es in einer aufgeregten Zeit verstand, einer solchen Stimme aus der Tiefe der Geschichte Raum zu geben. Golo Mann hat damals für seine Bücher mindestens einen jungen Leser mehr gewonnen, und auf diesem Weg auch schon bald für seinen Vater Thomas: Denn waren die "Buddenbrooks" nicht auch eine historische Darstellung, die der "Deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert" zusätzlich Farbe und Leben gab?

Schon Golo Manns erster Beitrag in der SZ-Serie erwies sich zwanzig Jahre später als visionär: "Es gab den Spruch über dem Portal einer Forst-Akademie, den, glaube ich, Bismarck irgendwo zitiert: Wir ernten, was wir nicht gesät haben, wir säen, was wir nicht ernten werden. - Vielleicht wird später eine andere Bundesregierung ernten; die Opposition, die jetzt noch singt ,Das ganze Deutschland soll es sein.'"

So trafen sich 1972 Fluchtlinien, die aus weiter Vergangenheit in die Zukunft reichten, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen.

Weitere Folgen der SZ-Serie finden Sie hier.

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