Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6:Brasilia im Voralpenland

Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6: Fertig für die Welt: der Münchner Olympiapark mit dem Stadion im Jahr der Spiele 1972.

Fertig für die Welt: der Münchner Olympiapark mit dem Stadion im Jahr der Spiele 1972.

(Foto: AP)

Die Olympischen Spiele 1972 veränderten das Stadtbild Münchens grundlegend, aus dem Millionendorf mit Kriegsschäden wurde eine Metropole auf der Höhe der Zeit.

Von Andreas Bernard

München war für ein Kind, das in den 1970er-Jahren aufwuchs, eine Stadt mit zwei Gesichtern. Abstrakte Kategorien wie "Tradition" und "Moderne" hatten natürlich noch keine Bedeutung, aber bei Spaziergängen mit dem Großvater vom Marienplatz nach Schwabing, zu einer bestimmten Imbissbude in der Leopoldstraße, oder bei Einkaufsfahrten am Samstag in den Euro-Industriepark ganz im Norden stellte sich immer das Gefühl ein, dass die Heimatstadt an bestimmten Stellen ihre Atmosphäre veränderte, dass sie auf einmal vom Farbenfrohen ins Silbrig-Kühle, vom Verschlungenen ins Gerade, vom Kleinteiligen ins Offene wechselte.

Rund um das Zentrum mit seinem labyrinthartigen Straßengeflecht war München heimelig, an manchen Orten fast ländlich; der Kosename "Millionendorf", den ich in den Lokalnachrichten im Radio oder in der Abendzeitung beim Frühstück aufschnappte, fand hier seine Gültigkeit. Aber jeder Blick aus dem Autofenster am Mittleren Ring - auf das BMW-Gebäude und den schmalen Fernsehturm im Nordwesten, auf das Arabella-Hochhaus im Nordosten -, jede Fahrt in der neu eröffneten U-Bahn, deren Haltestellen umso spröder gestaltet waren, je weiter entfernt sie von der Innenstadt lagen (der "Bonner Platz", der "Scheidplatz" nur noch farblose Passagen), gab das Bild eines anderen Münchens frei, das auf die kindliche Wahrnehmung zwar fremd wirkte, in seiner eleganten Strenge aber auch eine Art Faszination hervorrief.

Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6: Das Olympische Dorf mit den Athletenunterkünften 1972 in Erwartung der Spiele.

Das Olympische Dorf mit den Athletenunterkünften 1972 in Erwartung der Spiele.

(Foto: AP)

Die Biergarten- und Residenzstadt ging in ein Ensemble der klaren, erhabenen Formen über, in der Vertikalen und Horizontalen, über und unter der Erde, und es dauerte bis zum Ende der Schulzeit, vielleicht sogar bis ins Studium hinein, bevor mir bewusst wurde, dass diese Verwandlung mit einem einzigen Ereignis zu tun hatte. Am 26. April 1966 bekam München den Zuschlag zu den Olympischen Spielen von 1972, und in den sechs Jahren dazwischen entstand das moderne Gesicht der Stadt: Olympiagelände und S-Bahn eigens für die Veranstaltung gebaut; Mittlerer Ring, U-Bahn und wahrzeichenfähige Gebäude (wie der Vierzylinder von BMW und das Arabellahaus) in beschleunigter Arbeit rechtzeitig fertiggestellt. Ein kleines Brasilia im Voralpenland.

In den Jahren vor 1972 war die Stadt voller Baustellen, Kräne und Gruben. Die Filme des jungen Münchner Kinos künden davon

Am Ende der Sechzigerjahre war München eine einzige Großbaustelle - die Hauptachse der Stadt, von der Lindwurmstraße über Stachus und Marienplatz zur Ludwigs- und Leopoldstraße, bis an den Rand der Gehsteige aufgerissen (die Fußgänger mussten sich dicht an den Häusern entlangschlängeln); auf dem Oberwiesenfeld im Norden, dem künftigen Olympiagelände, ein Heer aus Kränen und Arbeitern. In den Filmen des jungen Münchner Kinos ist diese Umgestaltung heute als Nebeneffekt aufbewahrt; manchmal zielen die Kameras von Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Rudolf Thomé oder Eckhart Schmidt so lange auf die Baustellen und Gruben, dass der Verdacht aufkommt, die Regisseure hätten damals schon gewusst, welchen dokumentarischen Reiz diese temporären Schauplätze einmal ausüben würden.

In "Rote Sonne" von 1969 wird ein Mann von der Behelfsbrücke über der Sonnenstraße aus erschossen, über die die Passanten während des S-Bahn-Baus am Stachus gehen mussten. In "Jet Generation" von 1968 sieht man das weitläufige, noch leere Oberwiesenfeld, auf dem nichts als der imposante Fernsehturm steht, und die Bilder erinnern an die vergessene Tatsache, dass dieser Turm vor dem Zuschlag zu den Spielen errichtet und erst nachträglich in das Ensemble des Olympiaparks eingefügt wurde (der Name "Olympiaturm" eigentlich eine historische Fälschung).

Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6: Abriss der letzten Flughafen-Gebäude auf dem Oberwiesenfeld, dem späteren Olympiagelände. Rechts der 1968 eröffnete Fernsehturm, der nachträglich in das Olympia-Konzept integriert und zum Wahrzeichen des Olympiaparks wurde.

Abriss der letzten Flughafen-Gebäude auf dem Oberwiesenfeld, dem späteren Olympiagelände. Rechts der 1968 eröffnete Fernsehturm, der nachträglich in das Olympia-Konzept integriert und zum Wahrzeichen des Olympiaparks wurde.

(Foto: Werek/imago stock&people)

Genau diese hügelige Fläche zwischen Neuhausen und Nordschwabing ruft aber auch ins Gedächtnis, dass die Zeit zwischen 1966 und 1972 nicht die erste große Transformation Münchens im 20. Jahrhundert war. Nur gut zwanzig Jahre vor dem Beginn der Umbaumaßnahmen wurde die Stadt schon einmal ausgehöhlt, damals aber nicht freiwillig, sondern gewaltsam, nicht im Zeichen der Produktivität, sondern der Zerstörung. Die Kriegstrümmer des bombardierten Münchens häufte man ab dem Frühsommer 1945 auf vier Schuttbergen außerhalb des Stadtzentrums an, der größte davon das Oberwiesenfeld, ein früherer Flug- und Exerzierplatz.

Das historische Zentrum Münchens war nach dem Zweiten Weltkrieg zu weiten Teilen zerstört, und der getreue Wiederaufbau, der einem Kind in den 1970er-Jahren den sicheren Eindruck vermittelte, das Areal zwischen Pauls-, Frauen- und Theatinerkirche sei uralt, hing in den Monaten nach der Befreiung an einem seidenen Faden. Nur ein leicht verändertes Abstimmungsverhältnis, und die amerikanische Militärregierung hätte die Altstadt bekanntlich nach vollkommen neuen Gestaltungsplänen errichten lassen oder München sogar an den Starnberger See verlegt. Doch man entschied sich im August 1945 für eine traditionsgeleitete Rekonstruktion, deren Fugen für die darauffolgende Generation längst verblasst und eingeebnet waren; der Schritt zur sichtbaren Erneuerung des Stadtbildes erfolgte erst im Vorfeld der Olympischen Spiele.

Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6: Bilder von Kriegszerstörungen - wie von der Münchner Innenstadt im August 1946 - rufen mitunter heftige Emotionen wach, selbst noch nach Jahrzehnten.

Bilder von Kriegszerstörungen - wie von der Münchner Innenstadt im August 1946 - rufen mitunter heftige Emotionen wach, selbst noch nach Jahrzehnten.

(Foto: Sammlung Rolf Poss/imago)

Spektakulärster Teil dieser Erneuerung war der Olympiapark, mit dem Stadion, der Halle, dem Schwimmbad und dem alles überspannenden, fließenden Dach; dahinter begann das terrassenförmige Olympische Dorf, das der Stadt, im Gegensatz zu seinem Namen, größere Urbanität verlieh. Das alte Oberwiesenfeld hat in der Geschichte Münchens also eine vielschichtige Funktion: In einem archäologischen Sinn zeichnen sich in dieser Hügellandschaft die Sedimente der Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert ab, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, das hemdsärmelige Kommando "Rama dama" in den Jahren danach, schließlich der Modernitätsschub der Olympischen Spiele, deren oft beschworene Heiterkeit durch das Attentat auf die israelischen Sportler vom 5. September wieder erschüttert wurde.

Serie "1972: Das Jahr, das bleibt", Folge 6: Das Arabellahaus im Münchner Arabellapark. Giorgio Moroder hatte hier in den Siebzigerjahren im Keller seine Musicland Studios eingerichtet. Darin ertüftelte er den "Munich Sound" der Discomusik.

Das Arabellahaus im Münchner Arabellapark. Giorgio Moroder hatte hier in den Siebzigerjahren im Keller seine Musicland Studios eingerichtet. Darin ertüftelte er den "Munich Sound" der Discomusik.

(Foto: HRSchulz/imago)

Fast alles, was aus München, dieser im restlichen Deutschland für provinziell gehaltenen Stadt, in den letzten fünfzig Jahren an Avantgarde und Glamour hervorging, steht in direktem oder indirektem Zusammenhang mit 1972. Die Disco-Bewegung etwa hatte ihr weltweites Zentrum einige Zeit lang in den Musicland Studios Giorgio Moroders, die im Arabellahaus in Bogenhausen untergebracht waren; noch bis in die frühen Achtzigerjahre hinein nahmen auch Rockbands wie Led Zeppelin, Queen und die Rolling Stones hier ihre Platten auf und lebten im Hoteltrakt des Hauses, der extra für die Olympischen Spiele eröffnet worden war. Aus dieser Verbindung wiederum ging Freddie Mercurys berüchtigte Liebe zu München hervor, die sich im Lauf der Achtziger dann allerdings mehr und mehr in die Bars des Glockenbachviertels verlagerte.

Wie mag diese Stadt heute auf ihre sieben- oder elfjährigen Bewohner wirken? Haben sich die zwischen 1966 und 1972 gebauten Elemente und Bestandteile, deren Entstehung ja inzwischen doppelt so lange zurückliegt wie damals die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs, nahtlos in das Stadtbild eingefügt, überlagert von einer Patina, die der des Rathauses oder der Residenzgebäude nicht mehr nachsteht? In vielerlei Hinsicht ist das Brandneue der olympischen Infrastruktur selbst längst historisch und veraltet, nicht nur was die notorisch anfällige Technik der S-Bahn-Stammstrecke betrifft, sondern auch im Sinne des Designs: Das dunkelblaue Piktogramm an den Eingängen zu den U-Bahn-Stationen etwa zeigte bis vor Kurzem noch einen die Treppe hinabsteigenden Mann mit Hut.

Wie tief der Einschnitt dieser fünf, sechs Jahre vor den Olympischen Spielen jedoch gewesen ist, zeigt sich allein, wenn man auf Youtube eine alte Fernsehreportage über München aus dem Jahr 1965 mit einer aus den frühen Siebzigern vergleicht. Die ersten Bilder zeigen eine gemächliche, folkloristische Stadt, deren Idyllik von den vielen Kriegslücken und einstöckigen Behelfsbauten getrübt ist; die zweiten eine Metropole auf der Höhe der Zeit. Dass die Film- und Fernsehaufnahmen genau in diesen Jahren von Schwarz-Weiß auf Farbe umstellen, ist konsequent und vertieft diese Zäsur, so als würde die medientechnologische Erneuerung um die des Stadtbildes wissen. Im Jahr 1972 endete in München endgültig die Nachkriegszeit.

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