1968: Deutsche Studenten adeln Vietcong:Den Freiheitskampf nach Deutschland holen

Nirgendwo gab es für diese Revolution bessere Voraussetzungen als in Berlin: Die Niederlage des Vietcong in der Tet-Offensive war auch deren größter Sieg, denn sie löste die Proteste von 1968 aus.

Willi Winkler

Anfang des Jahres 1968 erreichte der Krieg in Vietnam endgültig auch Deutschland. Der Schauspieler Wolfgang Kieling ließ seinen Bundesfilmpreis zugunsten der südvietnamesischen Befreiungsfront FNL versteigern und verabschiedete sich mit einer Erklärung, die ihm Ulrike Meinhof aufgesetzt hatte, in die DDR, "weil sie das einzige deutschsprachige Land ist, von dem ich mit Gewissheit sagen kann, dass es an den Verbrechen der amerikanischen Politik keinerlei Anteil hat".

1968: Deutsche Studenten adeln Vietcong: 1968 an der TU Berlin: Deutsche Studenten bekunden ihre Solidarität mit dem Vietcong.

1968 an der TU Berlin: Deutsche Studenten bekunden ihre Solidarität mit dem Vietcong.

(Foto: Foto: dpa)

Martin Walser, der eigens ein Büro für unterdrückte Nachrichten aus Südostasien eingerichtet hatte, verlangte, dass "Vietnam auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages" gesetzt werde. Der Regisseur Jean-Marie Straub wies darauf hin, dass seine "Chronik der Anna Magdalena Bach dem Vietcong gewidmet" sei. Peter Stein begann seine theatralische Laufbahn, indem er beim Publikum der Münchner Kammerspiele Geld für diesen Vietcong sammelte.

Zeit für die Revolution

In der Berliner Technischen Universität versammelten sich am 17. Februar 1968 die Anführer der deutschen Studenten zum Vietnam-Kongress. Befreundete Organisationen aus den größeren westlichen Ländern hatten Delegationen geschickt; sogar die FDJ (Freie Deutsche Jugend) aus dem nahen Osten wollte dabei sein. Vor einer riesigen Fahne der FNL verkündete ein Spruchband den kommenden "Sieg der vietnamesischen Revolution."

Die Zeit für eine Revolution schien gekommen. Und die Springerpresse hetzte: "Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen."

Nirgendwo gab es für diese Revolution bessere Voraussetzungen als in Berlin: ein übermächtiger Gegner und eine kleine radikale Minderheit, die sich mit der Moral auf ihrer Seite im Recht fühlen durfte. "Genossen!", rief Rudi Dutschke den Teilnehmern des Vietnam-Kongresses zu, "Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich zerschlagen."

Im Namen der Freiheit

Nach der Niederlage Che Guevaras wenige Monate zuvor, konnte man sich in einen weiteren aussichtslosen Kampf stürzen; der Vietcong hatte es vorgemacht. Damals schien es, sagt der britische Studentenführer Tariq Ali, der in Berlin dabei war, "als ob unsere Aktionen im Westen mit den Ereignissen auf den wirklichen Schlachtfeldern in Vietnam koordiniert wären".

So groß war der Unterschied nicht: In Berlin musste wie in Vietnam die Freiheit verteidigt werden, die hier wie dort von Kommunisten bedroht wurde. Die waren, so die bewährte Lehre, auf der ganzen Welt im Vormarsch und mussten um jeden Preis aufgehalten werden. Deshalb stand eine halbe Million amerikanischer Soldaten in Indochina, die im Namen der Freiheit systematisch nordvietnamesische Städte bombardierten, den Dschungel entlaubten, Dörfer abfackelten, Frauen vergewaltigten und Männer verstümmelten. Die deutsche Regierung, die deutschen Zeitungen versicherten den USA ihrer unverbrüchlichen Solidarität.

David gegen Goliath

Dann aber begann die FNL am 30. Januar 1968, in der Nacht zum vietnamesischen Neujahrsfest Tet, mit einer alle überraschenden Offensive. Binnen weniger Stunden wurden die wichtigsten Städte und Hunderte von Dörfern in Südvietnam angegriffen. Die amerikanischen Soldaten waren den Guerilleros, die barfuß kämpften und ihren Nachschub auf dem Fahrrad heranführten, himmelhoch überlegen.

Allein in der ersten Woche starben 14.997 Vietnamesen, während die USA 376 Gefallene zu beklagen hatten. Haften aber blieben die Bilder von den Vietcong, die gänzlich unmilitärisch auf das Gelände der US-Botschaft in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon vorgedrungen waren. Sie wurden zwar alle sofort getötet, die Leichen lagen weit verstreut, aber die stärkste Militärmacht der Welt war offensichtlich nicht ganz so stark, David konnte es mit Goliath aufnehmen.

Lesen Sie auf Seite 2, warum die Revolution in Deutschland unbedingt nachgespielt werden musste.

Den Freiheitskampf nach Deutschland holen

Die Teilnehmer des Vietnam-Kongresses bejubelten die Meldungen von der Front in Hue und Khe Sanh. Es wurde Geld für Waffen gesammelt, noch sind sie für den Vietcong bestimmt. Doch das Absingen der Internationale genügte den Berliner Revolutionären nicht mehr. Aus Italien war der Verleger Giangiacomo Feltrinelli angereist, der Rudi Dutschke einen Koffer mit Dynamit überreichte. War das die Revolution? Die Pflicht des Revolutionärs? Dutschke zögerte und bettete dann seinen Erstgeborenen auf den Sprengstoff, ehe sich eine Möglichkeit fand, das Dynamit zu entsorgen.

Wer zuschaute, machte sich schuldig

Der Berliner Senat hatte eine Kundgebung gegen den Krieg in Vietnam untersagt. Rudi Dutschke wollte unbedingt marschieren. Die Sache ging vor Gericht und das Gericht erlaubte die Demonstration. In der aufgeregten Atmosphäre hätte ein Verbot eine Tet-Aktion nicht unbedingt verhindert: "Unsere Leiber sollten dabei die Waffen sein", soll ein SDS-Mitglied (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) geseufzt haben.

Selbst zwischen den Teilnehmern der Demonstration ist umstritten, wie weit Dutschkes Konfrontationslust ging; je nach Quelle hat ihn Erich Fried, Bernd Rabehl, Bischof Kurt Scharf oder sogar Günter Grass davon abgehalten, die Seinen wie eine Vietcong-Truppe zum Sturm gegen die amerikanische McNair-Kaserne zu führen. Die Entsatztruppe des Vietcong wäre von der amerikanischen Schutzmacht umstandslos niedergeschossen worden, und so war es ein Segen, dass die Revolutionäre noch einmal darauf verzichteten, Revolution zu machen.

Auch Hans Magnus Enzensberger glühte für die Revolution. In einem Offenen Brief gab er ein Stipendium an einer nordamerikanischen Universität mit der Begründung zurück, die US-Regierung sei "gemeingefährlich" und verglich die USA mit Nazi-Deutschland. Der Völkermord, von den Vätern begangen, wiederholte sich in Südostasien fernsehnachrichtenabendlich im Mord an Zivilisten. Wer da zuschaute, der machte sich wieder schuldig.

Brände in Frankfurt

Am Tag, als Enzensbergers Analyse in der Zeit erschien, flog Rudi Dutschke von Berlin nach Frankfurt, wo er von der Polizei sogleich in Schutzhaft genommen wurde. Dutschke agitierte die Genossen gegen den amerikanischen Imperialismus, fuhr aber dann mit Bahman Nirumand weiter ins Saarland, wo sie versuchten, einen Sendemasten des AFN (American Forces Network) in die Luft zu sprengen. "Mit dieser Aktion wollten wir unseren Protest gegen den Vietnamkrieg demonstrieren." Auch diese Aktion scheiterte. Der Verfassungsschutz hatte den Revolutionären die Bombe untergejubelt.

In Vietnam war die Tet-Offensive militärisch zwar eine Katastrophe. Doch bereits nach vier Wochen bezweifelte der wichtigste amerikanische Nachrichtensprecher Walter Cronkite, dass die USA überhaupt das Recht hätten, Krieg gegen Vietnam zu führen.

Präsident Johnson, der dem Vietcong nicht nachgegeben hatte, kapitulierte vor dem folgenden Druck der Öffentlichkeit. Am 31. März gab er bekannt, dass er sich nicht zur Wiederwahl stellen würde. Da war Dutschke schon von einem Rechtsradikalen niedergeschossen worden.

Die Niederlage des Vietcong in der Tet-Offensive adelte die Guerilleros zu Freiheitskämpfern. So fern, so reizvoll war die überseeische Revolution, dass sie in Deutschland unbedingt nachgespielt werden musste. Drei Tage nach Johnsons Aufgabe brannte es in zwei Kaufhäusern auf der Frankfurter Zeil. Die Brandstifterin Gudrun Ensslin sollte später erklären: "Wir taten es aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen."

Die nordvietnamesische Regierung erklärte sich am gleichen Tag bereit, über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Den selbst ernannten deutschen Revolutionären war aber nicht mehr nach Verhandeln. Sie wollten den heroischen Kampf nach Deutschland holen, der in Vietnam so glanzvoll gescheitert war.

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