16. goEast-Festival Wiesbaden:Wo das Chaos wirklich wohnt

Szene aus "Ukrainian Sheriffs".

Momente der Fassungslosigkeit: Szene aus dem Dokumentarfilm "Ukrainian Sheriffs".

(Foto: Taskovski Films)

In ganz Europa schüren Rechtspopulisten die Angst vor der Anarchie. Doch wissen sie eigentlich, was Chaos wirklich bedeutet? Das goEast-Filmfestival in Wiesbaden bot in diesem Jahr viel Anschauungsmaterial.

Von Paul Katzenberger, Wiesbaden

Die CSU hat sie, und die AfD ist von ihr besessen - der Angst vor dem Chaos, dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, einer "sich abzeichnenden Katastrophe im Land" und der "Herrschaft des Unrechts".

Wer sich so martialisch äußert, erweckt den Eindruck, als versinke Deutschland gerade in der Anarchie. Wie wenig das mit der Realität zu tun hat, wird freilich in der Auseinandersetzung mit jenen Ländern klar, in denen wirklich Unrecht herrscht. Dazu muss man sich gar nicht mit den Kriegsgräueln in Syrien, in Libyen oder im Jemen auseinandersetzen, es reicht der Blick auf ein EU-Mitglied wie Rumänien.

Mit den Wirrnissen, die in dem Schwarzmeerland herrschen, beschäftigt sich etwa der rumänische Regisseur Marian Crișan in seinen Filmen. In dem Drama "Orizont", das beim diesjährigen goEast-Festival in Wiesbaden seine deutsche Premiere feierte, zeigt er auf, welche Mechanismen greifen, wenn der Staat dabei versagt, seinen Bürgern Sicherheit zu gewährleisten.

Das Elend der Schutzgelderpressung gehört zum Standardthema amerikanischer Mafia-Filme. Doch in "Orizont" beleuchtet Crișan die Implikationen, die diese Art von Verbrechen nach sich zieht, sehr viel subtiler, als es etwa die reine Gewalt in Martin Scorceses "Good Fellas" auszudrücken vermag.

Denn der Mafiosi Zoli (Zsolt Bogdán), den Crișan dem Zuschauer präsentiert, braucht gar keinen physischen Druck auszuüben, um sein Opfer Lucian (András Hatházi) gefügig zu machen. Der ist mit Frau, Sohn und Schwiegermutter in die traumhaft schöne Bergwelt Transsilvaniens gezogen, um dort ein Hotel zu bewirtschaften. Anfänglich gelingt es den neuen Pächtern, Touristen in die entlegene Gegend zu locken, doch dann entgleitet Lucian zunehmend die Kontrolle.

Machtlosigkeit des Einzelnen

Er sieht sich mit einem undurchsichtigen Mafia-Netzwerk konfrontiert, in das Holzarbeiter und lokale Polizei gleichermaßen verstrickt sind, wobei beides aus der Perspektive Lucians stets nur zu erahnen ist. Es braucht nur diese Undurchschaubarkeit, um eine gespenstische Atmosphäre der Bedrohung schafft.

So wenig greifbar die Hintergründe für Lucian sind, so konsequent führen sie zum Verlust seiner Unabhängigkeit. In wirtschaftlichem Sinne durch das plötzliche rätselhafte Ausbleiben der Touristen, in rechtsstaatlichen Sinne durch die ebenso rätselhaft verweigerte Hilfe der Polizei - und im ganz konkreten Sinne durch Zolis Schaffen von Fakten: Nach und nach wird das Hotel zum Gasthaus, in dem Zoli Hof hält, Lucian zum Lakaien degradiert und auch noch seine Frau bezirzt.

16. goEast-Festival Wiesbaden: Wenn einem der Mafiosi die Frau auszuspannen droht: Lucian (Hintergrund) gefällt es in "Orizont" ganz offensichtlich nicht, wie innig die Frau Gemahlin mit Zoli tanzt.

Wenn einem der Mafiosi die Frau auszuspannen droht: Lucian (Hintergrund) gefällt es in "Orizont" ganz offensichtlich nicht, wie innig die Frau Gemahlin mit Zoli tanzt.

(Foto: Solar Indie Junction)

Archaische Strukturen, Korruption und die Machtlosigkeit des Einzelnen - so stellt sich hier das Chaos in Rumänien dar. Es kann jeder hineingeraten - ein großer Unterschied zu Deutschland. Dort verletzen Flüchtlinge möglicherweise die Gesetze beim Grenzübertritt und in bestimmten Milieus ist auch die Schutzgelderpressung nicht unbekannt, doch das heißt noch lange nicht, dass der gesamte Rechtsstaat aus den Angeln gehoben wird.

Die offizielle Polizei lässt sich nicht mehr blicken

Etwas weiter östlich wird die Regellosigkeit noch übertroffen. In seiner Doku "Ukrainian Sheriffs" präsentierte Roman Bondarchuk das südukrainische 1800-Seelen-Dorf Stara Zburjevka bei goEast als einen Ort, in dem die öffentliche Ordnung jeden Tag aufs Neue gefährdet ist.

Die offizielle Polizei lässt sich nicht mehr blicken, warum auch - bei den Hungerlöhnen, die die Beamten bekommen. Wer etwa Opfer eines Einbruchs wird, hat Pech gehabt, wie ein Hausbesitzer in einer Szene schmerzlich erfahren muss. Um einen Hauch von Zivilisation aufrecht zu erhalten, hat Bürgermeister Viktor Varunjak den pensionierten Polizisten Vitja und den stämmigen Bauern Volodja als Zivilstreife eingesetzt.

Das Duo kümmert sich in seinem klapprigen Lada, der jeden Moment zusammenzubrechen droht, um alles, was anfällt. Und das kann in dem Ort unweit der Front des ukrainischen Bürgerkrieges so gut wie alles sein, was sich im Kleinen und Großen in dem zerrissenen Reformland derzeit abspielt: die Verfolgung der örtlichen Entendiebe genauso wie das Anmalen einer abgeschabten Gedenkplatte zur Erinnerung an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Oder die Überbringung des Einberufungsbefehls an jene Unglücksraben, deren Lebenserwartung gerade beträchtlich gesunken ist, weil sie in den Krieg ziehen müssen.

Respektlosigkeit gegenüber dem Souverän

16. goEast-Festival Wiesbaden: Stolze Ordnungshüter: Volodja und Vitja (von links) mit Dienstfahrzeug in "Ukrainian Sheriffs".

Stolze Ordnungshüter: Volodja und Vitja (von links) mit Dienstfahrzeug in "Ukrainian Sheriffs".

(Foto: Taskovski Films)

"Ukrainian Sheriffs" wird von Bondarchuks offensichtlicher Zuneigung zu Vitja und Volodja getragen, die in ihrem Umgang mit den Menschen Stara Zburjevkas und ihrer tragikomischen Trunk- und Streitsucht eine tiefsitzende Humanität erkennen lassen. Und doch sind manche Szenen schlicht erschütternd: Einmal stößt das Gespann auf eine Leiche, die bereits ein halbes Jahr im Siff eines total verdreckten Hauses lag, ohne, dass das irgend jemandem in dieser kleinen Welt aufgefallen wäre.

Die größte Betroffenheit löst vielleicht aber eine Szene aus, in der es nicht um Leben und Tod geht: Als Vitja bei einem Festakt im Gemeindehaus für seine Arbeit neben anderen geehrt werden soll, unterbricht der Offizielle seine Ansprache vor dem zahlreich erschienen Publikum, als sein Handy klingelt.

Auch hier melden sich also offensichtlich die archaischen Strukturen im Hintergrund, die selbst dann Vorrang erhalten, wenn Dutzende Hörer warten müssen.

Das Chaos, das die AfD in Deutschland so sehr heraufziehen sieht - hier erscheint es im Gewand der Respektlosigkeit gegenüber dem eigentlichen Souverän - dem Volk, das sich das hier in der südukrainischen Provinz klaglos gefallen lässt.

Doch es ist genau diese Unfähigkeit zur Kritik, die auf Willkür und Anarchie weist. Wenn die AfD mit Protest gerade groß herauskommt, steht das doch viel mehr für Ordnung als für die Unordnung, wie sie die Partei zu erkennen glaubt: Das freiheitliche Gesellschaftssystem mit seiner Verteidigung der Menschenrechte ist so stark, dass es sogar Rechtspopulisten mit ihrer Fundamentalkritik an eben diesen Werten alle Chancen im demokratischen Wettbewerb einräumt.

Das 21. Jahrhundert scheint weit weg zu sein

Wie sehr die Regellosigkeit in einer Gesellschaft um sich gegriffen hat, wird aber genau dann erkennbar, wenn es niemanden mehr gibt, der sich aufregen kann, und sei es die AfD.

Das lässt sich schon kleinen Details festmachen, wie sie bei goEast etwa die Doku "Im Lichte des Sonnenuntergangs" aufzeigte. Der Film von Salome Jashí präsentiert den eigenwilligen Mikrokosmos der georgischen Stadt Tsalenjikha in den verschiedensten Szenen des Alltags - bei Schlachtfesten, Hochzeiten, Stadtratssitzungen, Begräbnissen, Chorproben und Attraktionen wie einer gefangenen Eule.

Das 21. Jahrhundert scheint in vielen Szenen des Films sehr weit weg zu sein - wenn zum Beispiel reihenweise ganze gegrillte Ziegen in den Festsaal geschleppt werden. Und doch ist die moderne Welt in Tsalenjikha stets präsent, oft jedoch ohne die Regeln, die im Westen für selbstverständlich gehalten werden. Der örtliche Schönheitswettbewerb etwa würde bei deutschen Jugendschützern Proteststürme auslösen: An ihm nehmen Frauen im Alter von 12 bis 22 Jahren teil, was in der georgischen Provinz aber klaglos hingenommen wird.

GoEast stellte in diesem Jahr auch die Frage, ob die Nächstenliebe, wie sie in der Aufnahme und Beherbergung von Flüchtlingen zum Ausdruck kommt, nicht viel mehr ein Ausweis von Ordnung ist als das Gegenteil davon.

In "Insait", dem in diesem Jahr mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichneten Drama des Moskauer Regisseurs Alexandr Kott räumt die Gesellschaft einem jungen Mann, der überraschend erblindet ist, keine Chance auf einen Neuanfang ein, denn Schwäche ist nicht erlaubt. Dabei schöpft er durch die Krankenschwester, die ihn pflegt, zunächst Zuversicht. Ihr Name hat Symbolcharakter: Nadeschda heißt auf russisch Hoffnung. Doch Träume erfüllen sich meistens nur dort, wo anders als in Russland feste Regeln herrschen.

Alexandr Kott in Wiesbaden: "Insait ist kein Film über Blindheit, sondern über die Liebe."

Alexandr Kott in Wiesbaden: "Insait ist kein Film über Blindheit, sondern über die Liebe."

(Foto: Paul Katzenberger)
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