1111 Jahre und ein Tag:Chronik aus dem Reich der Hüte

1111 Jahre und ein Tag: Der Tod Karls des Kühnen in der Schlacht von Nancy, 1477.

Der Tod Karls des Kühnen in der Schlacht von Nancy, 1477.

(Foto: mauritius images/ Alamy/FALKENSTEINFOTO)

Bart van Loo schreibt eine Geschichte des mittelalterlichen Burgunds. Er erzählt von grässlichen, grotesken, frivolen Dingen in einem sehr fidelen Stil.

Von Burkhard Müller

Die Anfänge umfänglicher Werke sind manchmal klein, und umso kleiner, je tiefer sie in der Kindheit liegen. Für den Historiker Bart van Loo lag dieser Anfang in einem Bildchen, wie sie damals Lebensmitteln und Zigaretten beigefügt waren und die man in ein Album einklebte, das auch die nötigen Kommentare lieferte. Es war ein bestimmtes Bild, Teil einer Reihe über die Geschichte Belgiens, Nr. 182, das ihn faszinierte; er zeigt es ganz vorn in seinem Buch. Man sieht darauf zunächst wenig, eine Winterlandschaft und zwei Männer, die bei näherer Betrachtung als altertümlich bewaffnete Soldaten erkennbar werden; sie scheinen etwas zu suchen. Was sie zu finden hoffen, liegt möglicherweise im Vordergrund, ein länglicher Fleck im Schnee; es könnte eine menschliche Gestalt sein.

Das Ganze trägt den Titel "Nancy". Ein erst harmlos anmutendes Bild, das immer unheimlicher wird. Schließlich hat man kaum noch Zweifel: Was da vorn liegt, ist wirklich ein Mensch: der Leichnam Karls des Kühnen, Herzogs von Burgund, der in der Schlacht von Nancy im Januar 1477 seine Kühnheit mit dem Leben bezahlte. Mit ihm endete ein Staat, der mehr als ein Jahrhundert lang als der reichste und prachtvollste Europas galt. Als man Karl fand, war er von Hunden angefressen und kaum noch zu identifizieren. Von diesem Bildchen also ging für den Autor der Impuls aus, der schließlich in eine monumentale Geschichte des Reichs Burgund mündete.

Van Loo nennt sie im Untertitel "Eine Geschichte von 1111 Jahren und einem Tag". Er meint damit, dass sie eine noch weit längere Zeitspanne umfasst als jene, für die der Name des spätmittelalterlichen Herzogtums steht. Es gibt Länder, die rutschen immerfort auf der Landkarte herum. Was etwa heute Sachsen heißt, berührt sich in keinem einzigen Punkt mehr mit jenem Land, das Karl der Große vor 1200 Jahren unter diesem Namen eroberte. Auch Burgund ist ein solch extremer Fall. Die Burgunder kamen von der Ostsee-Insel Bornholm, die eigentlich ein Burgunderholm ist, schufen sich in der Völkerwanderungszeit ein Reich auf römischem Boden mit der Haupstadt Worms (dort, am burgundischen Königshof, spielt das Nibelungenlied) und gründeten nach dessen Zerstörung durch den Hunnen Attila ein zweites weiter westlich, das später im Frankenreich aufging.

Die Burgunder kamen von der Ostsee-Insel Bornholm, die eigentlich ein Burgunderholm ist

Noch später entstanden die beiden Königreiche Hoch- und Niederburgund, die von der Schweiz bis ans Mittelmeer reichten; und dann ab dem 14. Jahrhundert das jüngere, das hier vor allem interessierende Burgund, das sich in den Wirren des Hundertjährigen Kriegs von Frankreich abspaltete, dann aber seinen wirtschaftlichen und politischen Schwerpunkt im Gebiet der heutigen Beneluxstaaten fand. (Die geografische Unruhe dieses Namens währt fort: Durch die letzte französische Gebietsreform wurden die beiden Regionen Bourgogne und Franche Comté zu einem neuen Groß-Burgund vereint.)

Der Autor pflegt einen gewissen fidelen Stil, an den man sich gewöhnen muss. "Geben wir dem aufgewirbelten Staub des unruhigen fünften Jahrhunderts einen Moment Zeit, sich zu legen, liebe Leserinnen und Leser, und richten wir den Blick auf die Burgunder." Er macht das Buch gut lesbar, gelegentlich ein wenig zu gut. Es geht um bedeutsame, oft um grässliche Dinge; das Spätmittelalter war eine Zeit exquisiter Grausamkeiten, die van Loo berichtet, ohne dass es ihm die gute Laune verschlüge. Er spricht vom Bürgerkrieg in Paris zwischen den Parteien der Burgunder und der Armagnaken und teilt mit: "Schließlich vergriffen sie sich auch an Bernard d'Armagnac selbst: Sie zogen ihm bei lebendigem Leibe die Haut ab. Seine entsetzlichen Schreie am 12. Juni 1418 fassten das zurückliegende Jahrzehnt zusammen, zehn Jahre der Gewalt, des hinterhältigen Verrats und des Chaos." Ist es vorstellbar, dass die Schreie eines lebendig Gehäuteten zehn Jahre Geschichte zusammenfassen wie ein Paper für Studierende im Prüfungsstress? (Und gibt es einen anderen Verrat als den hinterhältigen?)

Van Loo mochte fühlen, dass diese Art zu schreiben seine einzige Chance war. Denn im Hintergrund seines Buchs gibt es ein zweites, von ihm wenig erwähnt, dennoch immer präsent: "Herbst des Mittelalters" von Johan Huizinga, das es mit derselben Zeit und derselben Gegend zu tun hat, ein kulturgeschichtliches Werk von Ruhm und Rang, scharfsinnig in seinen Analysen und zugleich eine auch dem Laien zugängliche Lektüre; an diesem Klassiker muss sich jede andere Publikation zum Thema messen lassen. Die Quellen sind notwendig dieselben; der Unterschied muss also in der Art der Darstellung liegen.

Van Loo hat sich für einen erzählenden Duktus entschieden, der den bei Huizinga waltenden Ernst vermeidet und zu ironischer Beiläufigkeit tendiert. Dabei stellt sich der Erzähler gelegentlich etwas einfältiger, als er ist, besonders in den langen moritatenhaften Überschriften: "Der Kampf um Holland und Seeland / Oder / wie sich Holland und Seeland zu reichen Grafschaften entwickelt hatten, die Philipp dem Guten jeden Kampf wert waren, aber auch, wie die scheinbar geschlagene Jakobäa von Bayern Freund und Feind überraschte und dem Herzog von Burgund die Hölle heißmachte." Oder es kriegt einer kalte Füße, oder es kann ihm jemand den Buckel runterrutschen.

Aus einer gigantischen Pastete stieg ein Riese, der mit einer Zwergin tanzt

Ist das eine Art, Geschichte zu schreiben? Man muss, trotz einigen Verdrusses, doch sagen: ja. Der leichtfüßige Ton macht die Stoffmassen verdaulich. Vieles wirkt frivol und grotesk; aber Groteske und Frivolität lagen eindeutig im Zug der Zeit.

Man erfährt ungeheuer viel davon: dass Philipp der Kühne sich in nur zwei Jahren 180 Hüte zulegte; dass sein Urenkel Karl, der in Nancy sein Leben verlor, schon vorher in Murten den wohl teuersten Hut aller Zeiten, mit acht Reihen Diamanten, im Kampf gegen einen Haufen Schweizer Bergbauern einbüßte, welche mit den Edelsteinen nichts anzufangen wussten und sie in den Dreck warfen. (Überhaupt die Hüte! Der spitze überhohe Damenhut wie eine umgedrehte Schultüte, wie ihn jeder mit dem Mittelalter assoziiert, ist selbstverständlich eine burgundische Erfindung.) Dass wiederholt bei den Festen der Herzöge aus einer gigantischen Pastete ein Riese stieg, der mit einer Zwergin tanzte. Dass Agnès Sorel, die Geliebte des französischen Königs, mit ihrem kleinen Mund und ihrer entblößten Brust, das Modell abgab für die eigenartigste Madonna der Kunstgeschichte. Mit der Jungfrau von Orléans, die der burgundische Herzog gefangen nahm, weiß der Autor ersichtlich weniger anzufangen.

Über dieses Buch kann man sich in mancher Hinsicht ärgern. Es neigt dazu, seinen Gegenstand in eine Serie höfischer Anekdoten zu zerlegen, es hat schwache Begriffe von und wenig Interesse an Wirtschafts-, Institutions-, Geistes- und Kunstgeschichte. Aber es besitzt erhebliche anschauliche Qualitäten, die wie in einem Mosaik ein Tableau der Epoche zusammensetzen. Ein einseitiges Tableau gewiss, aber ein lebhaftes. Dass es ein Bild war, das ihn auf die Spur Burgunds gesetzt hat, glaubt man dem Autor aufs Wort. Man nehme sein Werk als das, was es ist, und man wird belohnt mit einem unterhaltsamen und aufschlussreichen Lese-Erlebnis. Mehr zu verlangen wäre unbillig.

Bart van Loo: Burgund. Das verschwundene Reich. Eine Geschichte von 1111 Jahren und einem Tag. Aus dem Niederländischen von Andrea Ecke. C.H. Beck Verlag, München 2020. 666 Seiten, 32 Euro.

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