Roman "1000 Serpentinen Angst":Das dreifache Bananen-Problem

Literatur Tipp Roman Olivia Wenzel

Olivia Wenzel wurde 1985 in Weimar geboren, sie lebt heute in Berlin-Schöneberg.

(Foto: Juliane Werner/S. Fischer Verlag)

Olivia Wenzel hat einen Roman über eine schwarze ostdeutsche Frau geschrieben, die trotzdem um ihre Privilegien weiß. Für das Einwanderungsland Deutschland ist das eine gute Nachricht.

Von Felix Stephan

Als Jackie Thomaes Roman "Brüder" im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, wurde bald der Vorwurf laut, in dem Roman gehe es zu wenig um Rassismus. Der Roman handelte von zwei Halbbrüdern, die mit dunkler Hautfarbe in Deutschland aufwachsen, sich aber trotzdem nicht zuallererst als Schwarze begreifen und von Rassismus, wenn er ihnen begegnet, in erster Linie peinlich berührt sind. Im Deutschlandfunk warf die Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka dem Roman daraufhin vor, er "beschwichtige". Bei Afrodeutschen funktioniert die Zuschreibungsdynamik allem Anschein nach wie bei anderen Minderheiten auch: Nicht nur die Mehrheitsgesellschaft erhebt unentwegt Ansprüche an korrektes Auftreten, Sprechen und allgemeines Betragen. Die eigene Minderheit verhält sich ganz genau so.

Die 1985 geborene Autorin Olivia Wenzel hat jetzt einen Roman veröffentlicht, in dem sich dieses Disziplinierungsgewitter noch einmal potenziert. Der Roman heißt "1000 Serpentinen Angst" und hat als Erzählerin eine schwarze, ostdeutsche Frau, die zumindest probeweise auch noch homosexuell ist und damit in der Logik der linguistisch informierten Struktursoziologie gleich mehrfach marginalisiert. Der Alltag der Erzählerin ist geprägt von Mikroaggressionen, die sich unter anderem immer dann ballen, wenn sie in aller Öffentlichkeit eine Banane isst.

"In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane."

Im Buch heißt diese Versuchsanordnung "Das dreifache Problem mit der Banane": Als schwarze Person wecke die Banane Assoziationen zum Affen, als Ossi zur traditionellen ostdeutschen Konsumunterlegenheit und als Frau zum Oralsex. "Unsichere, pubertierende Teenager traumatisieren andere unsichere, pubertierende Teenager." Bei einem Ausflug nach New York aber erlebt die Erzählerin dieses hier: "In New York gehe ich die Fifth Avenue entlang und esse unbefangen eine Banane. Und danach merke ich: Das war eben ein kleiner Moment, den andere Freiheit nennen."

Das Buch ist zum größten Teil in dialogischer Form gehalten, aber trotzdem nicht sokratisch. Eine der beiden Stimmen stellt übergriffige Fragen, die andere antwortet gewissenhaft und vollständig. Dass man nie weiß, wer an dieser Unterhaltung überhaupt teilnimmt, gehört zum Gestaltungsprinzip, viele Konstellationen wären denkbar. Es könnte sich um eine Unterhaltung zwischen dem Ich und dem Über-Ich handeln, zwischen der Autorin und der Protagonistin, zwischen Analytikerin und Patientin, zwischen der Erzählerin und ihren Dämonen. Auf das Therapiegespräch deutet hin, dass immer wieder von "Unterschlagungen" und versteckten Analogien die Rede ist und die Erzählerin außerdem unter einer Angststörung leidet. Die Art und Weise, wie die Gesprächspartner einander umtänzeln, abstoßen und letztlich verschmelzen, spricht eher für ein Selbstgespräch. Aufgelöst wird es nie. Die Fragen sind häufig von der Art, wie man sie auch von Facebook gestellt bekommt: Wo bist du gerade? Wie geht es dir? Was machst du? An einer Stelle aber trifft die Stimme einen wunden Punkt, als sie die verhängnisvolle Frage stellt: "Du flirtest ganz gern mit dem Kapitalismus, oder?"

Zur ganzen Wahrheit gehört nämlich auch, dass die Erzählerin den Kapitalismus nicht nur aus der Perspektive der postkolonialen Agamben-Mbembe-Butler-Schule betrachtet, also als globales Eliteninstrument zur seriellen Produktion von Außenseitertum, Depression und Vereinzelung. Sondern dass sie als deutsche Staatsbürgerin auch sehr konkret von ihm profitiert und auf diese Vorteile eigentlich auch nicht verzichten möchte. Sie unternimmt Reisen nach New York, Marokko, Vietnam, macht interessante Erfahrungen mit anderen Kulturen, probiert verschiedene Therapeuten aus und nimmt sich die Rolle als Verdammte dieser Erde nicht einmal selbst ganz ab. Und genau dieses Verhältnis macht "1000 Serpentinen Angst" zu einem so bemerkenswerten Buch: Die Erzählerin ringt mit dem Umstand, gleichzeitig Unterdrückerin und Unterdrückte zu sein.

Die Erzählerin macht sicht die Stereotype bewusst und schlägt Festlegungen ein Schnippchen

An der postkolonialen Theorie ist ja oft so ermüdend, dass sie häufig nur nach jenen sozialen Phänomenen fragt, die aus ihren eigenen Grundannahmen hervorgehen, dass sie also erst einen Gegenstand hinter dem Busch versteckt, um ihn dann nach langer Recherche, oha, genau dort vorzufinden, wie Friedrich Nietzsche das einmal beschrieben hat. Olivia Wenzel aber ist genauer. Ihre Erzählerin würde sich zwar eigentlich gern hineinbegeben in das Bewusstsein intersektioneller Benachteiligung, weil man dort immerhin zuverlässig im Recht ist. An einer Stelle aber, als sie ihre Rassismus- und Sexismuserfahrungen schon über 250 Seiten ausgebreitet hat, wird es der zweiten Stimme zu bunt mit der Larmoyanz der Hauptfigur: "Ziemlich redundant das Ganze. (...) Immer wieder diese Geschichten, in denen dir fast etwas passiert, aber letztlich doch nicht." Indem er den identitätspolitischen Diskurs in einer einzelnen Figur bündelt, kann der Roman all die Schlüsselprobleme diskutieren: den arg großzügigen Gewaltbegriff, das Bildungsdilemma, den ewigen Konflikt mit dem Klassenbegriff.

An sozialpolitischen Kategorien gemessen geht es der Erzählerin eigentlich so weit gut, die gesellschaftliche Ausgrenzung äußert sich eher in Blicken und Zwischentönen. Das ist nicht nichts, gleichzeitig aber auch keine Gewalt im engeren Sinne, sondern erst einmal Gesellschaft. Dass heute so viele Autoren und Autorinnen von rassistischen Erlebnissen berichten, heißt nicht zwangsläufig, dass es mehr Rassismus gibt, sondern auch, dass mehr Nichtweiße Bücher schreiben. Die Schriftstellerin Anne Weber hat vor Kurzem einen Roman über die französische Sozialistin und Résistancekämpferin Anne Beaumanoir veröffentlicht, der den Unterschied zum linken Denken des 20. Jahrhunderts sehr deutlich macht. Anne Beaumanoir wurde 1923 in einem nur halbwegs alphabetisierten Fischerdorf in der Bretagne geboren und ist mit 16 Jahren durch das besetzte Paris hindurchgeschlichen, um auch noch den letzten jüdischen Säugling aus der Stadt zu schmuggeln. Später, in den Sechzigern, ist sie dann der algerischen Befreiungsbewegung beigetreten, dem FLN, um im Untergrund zu kämpfen, dieses Mal gegen die Franzosen. Mit Vorbildern wie diesen lässt sich ein revolutionäres Bewusstsein im Berlin der Zehnerjahre auch dann nur schwer aufrechterhalten, wenn man in Brandenburg am See schon einmal einen Nazi gesehen hat. Wenzels Erzählerin will genau genommen gar keine andere Welt, eine Systemdiskussion führt sie an keiner Stelle. Sie will in erster Linie in einer Welt, die sie als feindselig, rassistisch und verdorben empfindet, einen Platz einnehmen, an dem sie von alledem nicht mehr belästigt wird. Und sie will in der Lage sein, diese Widersprüche auszuhalten.

Indem sie diesen Zwiespalt nicht übergeht, sondern zum Thema macht, findet Olivia Wenzels Erzählerin zu einem neuen Bewusstsein. Sie kann die Tatsache anerkennen, dass sie von der Gesellschaft als Nichtweiße gelabelt wird, ohne sich in diesem Thema gleich komplett zu verlieren. Und sie kann sich mit dem klassischen Dilemma der progressiven Bürgerlichkeit einrichten, praktisch selbst Dinge zu tun, die sie ideell ablehnt.

Sie macht sich also bewusst, welche Rolle rassistische und sexistische Stereotype in ihrem Leben gespielt haben, emanzipiert sich aber gleichzeitig von der wiederum beengenden Minderheitenidentität. Die Freiheit, die sie so erlangt, besteht letztlich darin, dass sie sich zu ihrer Geschichte in Beziehung setzt, ohne sich von ihr dominieren zu lassen. Dieser Schritt ist nicht ganz unbedeutend, weil er identitätspolitisches und linkes Denken entkoppelt. Man kann auf diese Weise schwarz, konservativ und deutsch zugleich sein. Für das Einwanderungsland Deutschland ist das überwiegend eine gute Nachricht.

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2020. 352 Seiten, 21 Euro.

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