100 Jahre Dada:So wird endlich die ganze Schönheit von Dada sichtbar

Hannah Höch mit Dada-Puppen, Berlin 1920PrivatsammlungFoto: unbekannt

Was Hannah Höch, hier mit Dada-Puppen, zuschnitt, kann in seiner Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden.

(Foto: unbekannt/VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

100 Jahre Dadaismus: Ausstellungen und Bücher feiern die vergessenen Künstlerinnen der Bewegung.

Von Catrin Lorch

Auf dem Gruppenfoto, zu dem sich die Dadaisten Anfang der Zwanzigerjahre in Paris aufstellten, ist sie unübersehbar: Céline Arnauld, zahnlückig, aber elegant. Flankiert von Tristan Tzara und André Breton. Männer wie Francis Picabia oder Louis Aragon schätzten die Gesellschaft der Schriftstellerin, die in Paris eigene Dada-Zeitschriften herausgab und Manifeste wie "Ombrelle Dada" formulierte, in dem sie zu dem nachdenklichen Schluss kommt: "Poesie = Zahnstocher".

Schon wenige Jahre später war sie vergessen. Wie es sein könne, dass seine Dada-Chronik ihr literarisches Werk und ihren Anteil an den Pariser Spektakeln nicht erwähne, fragt sie 1924 in einem Brief den Autor Tristan Tzara. Ob der sie einfach "vergessen" habe? Das war natürlich provokant gemeint. So wenig autoritär sich Dada gebärdete - wo es um Inklusion oder Verbannung ging, wurden die Bücher pedantisch geführt. "Die meisten männlichen Kollegen betrachteten uns lange Zeit als reizende begabte Amateure", schrieb Hannah Höch, "ohne uns je einen beruflichen Rang anerkennen zu wollen."

Die Dada-Frauen sind heute nicht mehr zu übergehen

Doch immerhin: Mit einem Jahrhundert Verspätung holt die Kunstgeschichte das Versäumte nach. "Dada's Women", vor vier Jahren von Ruth Hemus veröffentlicht, war der Auftakt. In diesem Frühjahr erscheint der Band "Dada und die Frauen" (Scheidegger & Spiess), herausgegeben von Ina Boesch, in dem bewertet wird, was der Beitrag der Frauen war - und der leider mit 150 Seiten zu kurz ist, um den gut zwei Dutzend Künstlerinnen wirklich gerecht zu werden. Doch gleichzeitig werden eine Reihe von Monografien aufgelegt und sogar Romane erscheinen wie "Die Welt zerschlagen" von Ute Bales über das Leben der Dadaistin Angelika Hoerle.

Hannah HöchLiebeum 1926Fotomontage und CollageIFA StuttgartFoto: Liedtke & Michel © VG Bild-Kunst, 2015

Die Dada-Männer übersahen Werke wie "Liebe" (um 1926) geflissentlich.

(Foto: IFA Stuttgart. Liedtke & Michel/VG Bild-Kunst, Bonn 2016 )

Damit sind die Frauen nicht mehr zu übergehen. Emmy Hennings etwa: Auf dem verschollenen Bild "Cabaret Voltaire" stellte Marcel Janko die deutsch-dänische Diseuse und Dichterin 1916 als einzige Frau in einem ärmellosen Kleid zwischen die Dadaisten. Unübersehbar, nicht nur als Gründerin der ersten Dada-Bühne, sondern auch weil sie sang, tanzte und rezitierte. Vieles war selbst geschrieben oder komponiert, getreu dem Dada-Motto "Jekami", übersetzt: "Jeder kann mitmachen." Die Zürcher Post nannte Hennings begeistert einen "Stern des Cabarets".

Dada brauchte die Frauen - für die anti-bürgerliche Libertinage und Erotik

Aber wie kommt es, dass sie der Kunst- und Literaturgeschichte nicht weiter aufgefallen ist? Ihre Romantrilogie zum Thema "Gefängnis" wird erst jetzt komplett in einem Band herausgegeben (Wallstein). Viele ihrer Gedichte und kurzen Prosastücke erschienen verstreut in Zeitschriften und kleinen Brevieren. In der ihr gewidmeten Monografie "Emmy Hennings Dada" (Verlag Scheidegger & Spiess) ist ein Heft abgebildet, das sie selbst gebastelt hatte, um ihre Verse - im Anschluss an einen Auftritt - im Publikum zu verkaufen.

Es war die durchlässige, anarchische und antiakademische Struktur der Dada-Bewegung, die es kurz nach der Jahrhundertwende Frauen überhaupt erlaubte, sich und ihr Werk zu zeigen. Und umgekehrt lud Dada schon deswegen weibliche Akteure ein, damit die Libertinage und Erotik, die man in aller Anti-Bürgerlichkeit ausspielte, auch wirklich stattfand. Die Künstlerin Hannah Höch war mutig genug, mit dem Dadaisten Raoul Hausmann zusammenzuleben, der einerseits verkündete, dass "die wahren Männer heute für die Ablösung der Besitzrechte des Mannes an der Frau" eintreten. Sich andererseits aber nicht von seiner Frau scheiden ließ.

Schätzten die Dadaisten also wirklich Künstlerinnen oder schmückten sie sich einfach mit libertärem Gehabe? Tristan Tzaras Aufzählung "Quelques Présidents et Présidentes du mouvement Dada" verzeichnet ein Viertel Frauen, darunter aber auch viele Ehefrauen, Geliebte, Musen. Persönliche Beziehung war wohl oft entscheidender als ein konsistentes, womöglich konkurrierendes Werk. Umgekehrt konnte es einer so bedeutenden Künstlerin wie Suzanne Duchamp passieren, dass die Kunstgeschichte sie nur als "Schwester von" Marcel Duchamp oder "zweite Frau von" Jean Crotti führte. Obwohl die ausgebildete Malerin als erste Künstlerin in Europa an einem Maschinenbild malte.

Zu Lebzeiten keine Aufmerksamkeit

Da die meisten Dadaistinnen im besten Dada-Unsinn viel Kraft in Bühnenauftritte oder Aktionen investierten, blieb für die Museen und Verlage nicht eben viel übrig. Die konservative Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hielt sich nicht groß mit radikalen Dadaistinnen wie Mina Loy auf, einer Frau, die bei ihrem Umzug nach New York im Jahr 1916 Mann und Kinder in Europa zurückgelassen hatte. In ihrem "Feminist Manifesto" forderte sie eine "Re-Systematisierung der Frauenfrage". "Bemüht euch, selbst herauszufinden, was ihr seid. So wie die Dinge jetzt liegen, habt ihr die Wahl zwischen Parasitentum, Prostitution und Negation", schrieb sie und propagierte, Mädchen vor der Pubertät das Jungfernhäutchen operativ zu entfernen.

Aber nicht einmal Künstlerinnen wie Hannah Höch, die bis zu ihrem Tod im Jahr 1978 in Berlin ihr Werk konsequent fortsetzte, erhielten zu Lebzeiten die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Obwohl Höch dabei war, als Dada in Berlin einschlug, als habe jemand "ein Streichholz in ein Pulverfaß geworfen", wie sie selbst schrieb. Sie hatte sich von ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus mit einem Studium an der Kunstgewerbeschule emanzipiert, um 1919 mit Topfdeckeln und einer Kinderpistole für eine Dada-Revue auf der Bühne zu stehen. Ein Jahr später war sie bei der "Ersten Internationalen Dada-Messe" vertreten. Vor allem ihre Collagen gelten inzwischen als Pionierarbeit. Die umfassende Werkschau "Vorhang auf für Hannah Höch" in Stade ist der Startschuss des Dada-Jahrs in Deutschland.

Ein "wahnwitziges Simultankonzert von Morden, Kulturschwindel, Erotik und Kalbsbraten"

Die Ausstellung, die bis zum 21. Februar läuft, greift weit aus: Mehr als sechs Jahrzehnte umfasst das Werk, das schon früh in so durchkomponierten Blättern wie der Collage "Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands 1919/20" einsetzt. Das Wimmelbild ist fast einen Quadratmeter groß, bietet Platz für Schnipsel aus Magazinen und Zeitungen. Höch montiert Buchstaben und Wortfetzen wie "anti" oder "dada" zwischen Körper- und Maschinenteile, bis das Panorama in unzählige Perspektiven zerfällt. Das große Ganze, es wird bei ihr immer ein Gemachtes bleiben: Hier setzt nicht die Hand des genialen Künstlers an - es sind die News, die hereinfluten, und die von ihr neu komponiert werden, bis es, um es mit Richard Huelsenbeck zu sagen, als "wahnwitziges Simultankonzert von Morden, Kulturschwindel, Erotik und Kalbsbraten" erscheint.

Lange hat man Höch vor allem als Dadaistin an der Seite Hausmanns gesehen, der arrogant genug war, ihr nach der Trennung im Jahr 1921 hinterherzurufen, "sie war nie Mitglied des Clubs". Hannah Höch sagte später, durchaus selbstkritisch, es sei genau anders herum: "Wenn ich nicht viel meiner Zeit dafür aufgewendet hätte, mich um ihn zu kümmern und ihn zu ermutigen, hätte ich selbst mehr erreicht."

Ihr spätes Schaffen ist eine Entdeckung: "Am Tränenpfuhl" (1956) oder "Ausmontierte Seelen" (1958) strahlen die grelle Künstlichkeit von Autolack, Folien oder Plastik aus. Ungefähr zur selben Zeit entdeckte der gelernte Gebrauchsgrafiker Andy Warhol in New York die Qualität von Magazinbildern als Readymades. Und sogar im Vergleich mit den bedeutendsten Werken aktueller Kunst, wie Isa Genzkens Assemblagen oder den Vielfach-Belichtungen des Schweizer Duos Fischli & Weiss, wird die außerordentliche Qualität dieses zuletzt vereinsamten Werks sichtbar.

Wenn im Dada-Jahr nun diese Bewegung noch einmal in Ausstellungen nachgezeichnet wird, dann werden vor allem solche Kuratoren das Terrain kunsthistorisch neu abstecken, die auf Frauen fokussieren. Denn es geht nicht länger um die Rehabilitierung so vieler Künstlerinnen. Es geht darum, Dada endlich in seiner ganzen Komplexität und Schönheit zu zeigen.

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