Zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger:Die Seufzer der Sprache

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Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich, 1952 (Foto: dpa)

Ihr Auftritt bei der Gruppe 47 war ein spektakuläres Ereignis, dann trat sie in den Schatten von Ingeborg Bachmann. Warum eigentlich? Vor 100 Jahren wurde Ilse Aichinger geboren, eine der größten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts.

Von Helmut Böttiger

Anfang der Siebzigerjahre geschah in der Wochenendbeilage der SZ etwas Merkwürdiges. Auf der ersten Seite war ein langer Prosatext abgedruckt, und in der knappen, in einem nachdenklichen Ton gehaltenen Begründung hieß es, man schreibe hier immer über Gegenwartsliteratur. Diese Gegenwartsliteratur selbst würde sich aber immer mehr entziehen, und um sich ihr ernsthaft zu stellen, drucke man jetzt diesen Text ab.

Der Titel lautete "Die Liebhaber der Westsäulen", und die Autorin war Ilse Aichinger. Auf den ersten Blick erschien, was da zu lesen war, vollkommen rätselhaft. Aber die Geschichte war von einer klaren, präzisen Sprache, mit scharfen, gestochenen Bildern, und es kamen ratlose, versprengte Einzelne darin vor. Die Anziehung des Textes lag darin, dass er sich dem oberflächlichen Verstehen so gründlich widersetzte. Ilse Aichinger war zu diesem Zeitpunkt längst zu einer fast mythischen Figur geworden. Sie veröffentlichte nur noch selten, und die Sprache dieser Autorin war von Band zu Band radikaler geworden, sie löste sich immer mehr von vorgegebenen Bedeutungen.

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Dabei hatte sie bereits in ihrem ersten Buch, dem Roman "Die größere Hoffnung" aus dem Jahr 1948, auf etwas abgehoben, was abseits der landläufigen Wahrnehmung lag. Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 geboren und galt später in der Nazidiktion als "Halbjüdin". Ihre Großmutter sowie die jüngeren Geschwister ihrer Mutter wurden 1942 im Konzentrationslager umgebracht, und ihre Zwillingsschwester Helga gelangte 1939 auf dem letzten Kindertransport von Wien nach England, während sie selbst zur Unterstützung ihrer Mutter in Wien blieb. Dies bildet den Hintergrund für den Roman. Ilse Aichinger beschrieb kurz nach dessen Erscheinen, welche ästhetischen Konsequenzen sie aus ihren konkreten Erlebnissen zog: "Wenn wir es richtig nehmen, können wir, was gegen uns gerichtet scheint, wenden, wir können gerade vom Ende her und auf das Ende hin zu erzählen beginnen, und die Welt geht uns wieder auf. Dann reden wir, wenn wir unter dem Galgen zu reden beginnen, vom Leben selbst."

Ihre Geschichten wie ein reißender Fluss: Wer hineingerät, kehrt nicht zurück

Ihre frühe Prosa setzt diese Forderung formbewusst um. Für die "Spiegelgeschichte" bekam sie 1952 den Preis der Gruppe 47. Der Text handelt von einer Frau, die wegen einer Abtreibung im Sterben liegt, und sie erlebt wie in einem Film, der zurückgespult wird, ihr Leben noch einmal. Der Schluss der Geschichte läuft auf die Geburt der Protagonistin zu, und er endet mit den Worten: "Es ist zu Ende -, sagen sie hinter dir, sie ist tot! Still! Lass sie reden!" Aichingers Lesung wurde bei der Gruppe 47 als ein herausragendes Ereignis wahrgenommen. Vier Wochen vorher war der Gruppenchef Hans Werner Richter in Wien gewesen und hatte sich mit Ilse Aichinger getroffen. Er erinnerte sich später: "Nie erwähnte sie ihre Vergangenheit, etwa im Dritten Reich. Es war, als hätte sie selbst den Mantel des Vergessens darübergehängt. Nur einmal sagte sie: 'Hier, an dieser Stelle, habe ich gestanden, als meine Verwandten abtransportiert wurden.' Diesen Satz habe ich behalten. Bis heute. Damals fragte ich nicht weiter, vielleicht aus Angst, mehr zu erfahren, als ich hören wollte."

Das Treffen der Gruppe 47 mit der Preisträgerin Ilse Aichinger und den Lesungen von Ingeborg Bachmann und Paul Celan markiert das Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit. Diese Tagung in Niendorf steht dafür, dass junge, deutschsprachige Autoren Anschluss an die zeitgenössische Moderne fanden. Im Rückblick wirkt es verblüffend, dass die kurz danach so schnell berühmt gewordene Ingeborg Bachmann zunächst im Schatten Ilse Aichingers gestanden hatte. Die beiden Dichterinnen waren in ihrer frühen Wiener Zeit eng miteinander befreundet gewesen.

Es ist ein charakteristisches Kapitel der Literaturgeschichte, wie sehr sich die Zuschreibungen für sie auseinanderentwickelten. Das lag wohl vor allem daran, dass Ilse Aichinger bald den renommierten Kollegen Günter Eich heiratete und Ingeborg Bachmann ihr flirrendes Leben als unabhängige, ungebundene Frau weiterführte. Die Lyrikerin wurde als äußerst sensibel und weiblich rezipiert und damit hymnisch gefeiert, während Aichingers Prosa einigen immer spröder erschien. An Bachmann schrieb sie in dieser Zeit, dass sie "an immer kürzeren Versuchen" arbeite, "die man auch nicht mehr Geschichten nennen kann. Das nächste werden wahrscheinlich Seufzer sein, um es noch kürzer zu machen."

"Seufzer" - das ist ein vieldeutiger Ausdruck für diese Texte. Man könnte ihn als ästhetisches Credo empfinden, aber gleichzeitig auch als dessen ironische Aufhebung. Das Erzählen, das Ilse Aichinger bisher erprobt hatte, schien ihr immer fragwürdiger zu werden. In einer poetologischen Äußerung jener Jahre heißt es: "Gerade mit dem Begriff des Erzählens verbinden viele immer wieder die Vorstellung des Behagens, des sanften Feuers, das ihre Hände wärmt. Oder sie sprechen vom Fluss der Erzählung und meinen damit den Fluss, der trägt, der links und rechts freundliche Ufer hat, an die sie, so oft sie wollen, zurückkehren können, um ihn dann ruhig an sich vorbeigleiten zu lassen. Aber wer heute Erzählungen mit Flüssen vergleicht, muss an reißendere Flüsse denken, mit steileren und steinigeren Ufern, an die keiner, der einmal den Sprung gewagt hat, so leicht wieder zurückkommt."

Sie schreibt, raunte man. Oder löste sie nur Kreuzworträtsel?

Jenes "behagliche" Erzählen, von dem Aichinger hier spricht - "Publikumsnähe" ist eines der vielen moderneren Wörter dafür - wird immer dann am lautesten eingefordert, wenn die Verdrängung am stärksten ist. Im Erzählungsband "Eliza Eliza" aus dem Jahr 1965 hat sie sich endgültig von allen äußeren Zuweisungen entfernt. Sie zerlegt die Wirklichkeit in ihre einzelnen Bestandteile und setzt diese neu zusammen. Die Logik der Sprache schafft aus sich heraus neue Bezüge und Bilder, und der Band "Schlechte Wörter" aus dem Jahr 1976 radikalisiert das noch einmal. Es gibt keinerlei Einverständnis mehr. Zentral wird die Perspektive der Außenseiter, der Verfolgten, der Nutzlosen, die sich dem Erfolgs- und Effizienzdenken widersetzen.

Einlinig politisch übersetzbar ist dies jedoch nicht, alles wird konsequent in der Sprache selbst durchgeführt. Von Ilse Aichinger gibt es nur einen einzigen Gedichtband, seine Entstehung umfasst einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren. Er wirkt so geschlossen, so einheitlich in seiner kargen Sprache, dass die Zeit zusammengespannt zu sein scheint zu einem einzigen, unfasslichen Punkt. In ihren letzten Jahren, nachdem sie lange in provinzieller Abgeschiedenheit gelebt hatte und nachdem Günter Eich gestorben war, wohnte sie wieder in Wien. Und man sah sie, wie sie in einer Ecke ihres Cafés saß und einen Stift in der Hand hatte - "sie schreibt", raunte man sich zu, doch dann stellte sich heraus, dass sie bloß Kreuzworträtsel löste.

Das passte zu ihr, die eine der großen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts gewesen ist. "Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr", heißt es in einem ihrer späten Texte: "Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind. Ich bin nicht wahllos wie das Leben."

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