Süddeutsche Zeitung

100. Festspiele: Besuch in Bayreuth:Der Alkoholator

Mit dem "Tannhäuser" beginnen an diesem Montagnachmittag die 100. Bayreuther Festspiele - ein Stück über Sex als Droge, deren Entzug heftige Delirien produziert. Ein Besuch bei den Proben auf dem Grünen Hügel und Gespräche über Bayreuther Gepflogenheiten.

Reinhard Brembeck

An der Rückseite des Bayreuther Festspielhauses, dort wo ein riesiges Tor den Bühnenbildern einen direkten Zugang auf die Bühne gestattet, konnte der unbedarfte Passant in den Wochen vor der heutigen Festivalpremiere manchmal einen monströs großen und knallroten Tank erblicken: einen Alkoholator, wie eine Aufschrift verrät, dessen sieben Ausgüsse mit den Namen der Wochentage beschriftet sind, darunter jeweils die lakonische Bemerkung "4000 Liter". Als Premiere dieser 100. Bayreuther Festspiele ist "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg" angesetzt. Ein Stück über Sex als Droge, deren Entzug heftige Delirien produziert. Aber was hat der Alkoholator damit zu tun?

Kurz danach ist das Ungetüm verschwunden. Jetzt steht der Alkoholator auf der Bühne des Festspielhauses. Doch was sonst so passiert bei dieser "Tannhäuser"-Probe, darf nicht verraten werden. Der Journalist muss sich schriftlich verpflichten, "keine Rezension zu verfassen oder eine andere Bewertung . . . vorzunehmen." Außerdem wird darauf hingewiesen, dass der Besuch der Probe auf eigene Gefahr erfolge, jede Haftung der Festspiele ausgeschlossen sei.

Also schweift der Blick von der ersten Reihe aus nicht auf die Bühne sondern in den Zuschauerraum. Ein Raum, den sich Richard Wagner nach eigenen Vorstellungen bauen ließ und der von Legenden umwoben ist. Besonders was die Akustik angeht, die als einmalig gilt - deren Tücken aber genauso einmalig sind. Doch vor jedem Ton ist der bei der Probe fast leere Raum erst einmal architektonisch ein Erlebnis. An sechs klassizistischen Prospektsäulen gleitet der Blick bewundernd bis ganz nach hinten zu den Logen, in denen bei der Premiere Merkel & Co sitzen werden. Was sie wohl vom Alkoholator denken werden? Ob Seehofer die Installation eines solchen Riesenbottichs im Bayerischen Landtag erwägen wird?

In der Mitte des Raums stehen verschiedene Tische fürs Regieteam. Den größten dieser Tische zieren elf Bildschirme. Regie 2011 ist Hightech, mögen sich Sänger und Musiker auf der Bühne und im Graben auch noch so schwitzend mit der Akustik abmühen. Da sind auch die Intendantinnenschwestern, Katharina, sie winkt kurz herüber, und Eva Wagner. Im hoheitsvoll gebührenden Abstand zu den Journalisten nehmen sie Platz, sichtlich gespannt. Ob sie schon wissen, wer den "Ring" 2013 zu Wagners 200. Geburtstag inszenieren wird? Derzeit wird Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, als Favorit gehandelt.

Dann geht das Licht aus und "Tannhäuser"-Dirigent Thomas Hengelbrock lässt aufspielen. Schon Wochen zuvor hat es geheißen, dass er "weder vor noch nach der Premiere" etwas zu den Journalisten sage werde. Und natürlich auch nicht während der Premiere.

Die Wulst

Zu den Besonderheiten des Festspielhauses gehört, dass man als Zuschauer weder den Dirigenten noch die Musiker sieht. Eine etwa ein Meter hohe Wulst, eine Art Deckel über dem Orchestergraben verhindert jeden Blickkontakt. Die Klänge scheinen wie in einem Kino von irgendwo aus unsichtbaren Lautsprechern zu kommen. Um Hengelbrock auch nur ansatzweise zu sehen, muss man sich ganz an der Seite auf diese Wulst legen. Dann sieht man zumindest einen Teil des aus verschiedenen Spitzenensembles zusammengestückelten Festspielorchester. Das aber so homogen klingt wie eine seit Jahrzehnten zusammenspielende Truppe. Alle Musiker sitzen in luftiger Freizeitkluft in ihrer heißen und von Lärm gepeinigten Höhle. Das wird sich auch bei den Vorführungen nicht ändern. Denn die Musiker werden nie sichtbar, eine Kleiderordnung gibt es nicht. Nur der Dirigent hat seinen Frack griffbereit, in den er für den Schlussapplaus schlüpft.

Während Hengelbrock schweigt, gibt sich, ein paar Wochen früher, Andris Nelsons umso auskunftsfreudiger. Nelsons ist Lette und einer der begehrtesten Jungdirigenten. Ein sympathischer Kumpeltyp, dessen Englisch so vergnügt tanzt wie seine Augen. Letztes Jahr war er erstmals in Bayreuth, hat den "Lohengrin" herausgebracht. Was das wichtigste beim Dirigieren sei? "Not to disturb music."

Sein Lachen ist breit, funkelnd, mitreißend. Bald kommt Nelsons auf Bayreuth zu sprechen, das Neulinge vor Herausforderungen stellt, die sie nicht immer in den Griff bekommen. Doch Nelsons hatte von den Bayreuth-Veteranen Daniel Barenboim und Christian Thielemann unschätzbare Tipps bekommen. Wegen der enormen Lautstärke im tief unter die Bühne reichenden Orchestergraben hört der Dirigent kaum, was auf der Bühne gesungen wird. Bedingt durch die Architektur muss er zudem mit dem Schlag immer früher dran sein als die Sänger. Das ist anstrengend. Aber, meint Nelsons, man müsse nur seinem Instinkt folgen, dann würde das schon funktionieren. Warum? Das sei ihm ein Rätsel. Nelsons vermutet Magie am Werk und den Geist Richard Wagners. "Wenn man das kontrollieren will", sagt er, "oder darüber nachdenkt, dann geht es nicht."

Und die Sänger? Wie erleben sie die akustischen Besonderheiten des Bayreuther Hauses? Klaus Florian Vogt, Jahrgang 1970, kam vor vier Jahren erstmals nach Bayreuth. Damals leitete noch Wolfgang Wagner die Festspiele, und Tochter Katharina hatte gerade mit den Proben zu den "Meistersingern" begonnen. Da sprang der ursprünglich dafür vorgesehene Tenor ab. Wohl weil er sich nicht mit dem Konzept anfreunden wollte, das den Nürnberger Sängerkrieg in einen Malermeisterstreit verwandelte, und Beckmesser nicht als Nörgler, sondern als Avantgardisten hinstellte. Am fünften Probentag kam deshalb Klaus Florian Vogt.

Man muss sich das so vorstellen wie seinen Auftritt als Lohengrin in Stefan Herheims Berliner Inszenierung vor zwei Jahren. Da schwebte der Held ganz in Weiß und an Puppenspielfäden aus dem Bühnenhimmel herab, mit schwanengeflügeltem Helm und Röckchen. Ein Retter, ein Erlöser. Was Vogt dann auch für Katharinas "Meistersinger" war.

Der Weltentrücktheit des Lohengrin, den er dieses Jahr erstmals in Bayreuth singt, entspricht Vogts unverkennbare Stimme: hell, klar, wie ein ferner Traum. Den Lohengrin singt er seit zehn Jahren, mit ihm hat er, wie er sagt, singen gelernt. In ein paar Jahren erst will er Schwereres angehen, Tristan oder Tannhäuser. Angst vor diesen Monsterpartien hat der Mann keine. Sein Tenor liegt relativ hoch und in der Übergangslage zwischen Brust- und Kopfregister, die vielen Sängern Schwierigkeiten macht, fühlt er sich recht wohl.

Zudem hat Vogts Stimme eine helle Tönung, die sich kaum mit den Streichern und Holzbläsern mischt. Deshalb strahlt sie selbst durch einen dicht lauten Orchesterklang hindurch. "Wenn man das weiß und wenn man sich selber hört, dann neigt man nicht so sehr dazu zu forcieren. Wenn man sich aber nicht selber hört, dann pusht man sich und das ist wahnsinnig gefährlich bei diesen langen Partien." In Bayreuth fühlt sich Vogt ausnehmend wohl: "Dieses Gefühl gibt es nur in diesem Raum. Wobei es für mich hier sogar etwas schwieriger ist, weil ich auf die Bühne einen sehr hohen streicherlastigen Orchesterklang geliefert bekomme. Das sind Frequenzen, in denen ich mich auch sehr gerne bewege. Da habe ich dann eher das Gefühl zu versinken, als wenn unter mir ein tiefer basslastiger Teppich liegt. Das macht das vom Klangbild her ein wenig gewöhnungsbedürftig."

Rausch und Ordnung

Weil die Blechbläser unter der Bühne sitzen, hört Vogt auf der Bühne kaum etwas von ihnen: "Deshalb bekommt man oft nicht das Metrum geliefert." Da muss einer also rhythmisch schon sehr sicher und partiturfirm sein. "Das Positive aber ist, dass es sich wunderschön singt und dass man immer weniger zu geben baucht, als man denkt."

Kein Wunder, dass diese akustischen Eigenheiten sich auch aufs Regiekonzept auswirken. "Der Raum ist für mich extrem wichtig, der Raum bestimmt die Spielweise", sagt Sebastian Baumgarten, Jahrgang 1969 und erstmals in Bayreuth. Er inszeniert den diesjährigen "Tannhäuser". Auch er staunt über Bayreuther Gepflogenheiten. Etwa darüber, dass man vor Probenbeginn die Bühne ausleuchtet. Das ist sonst nirgendwo so und dem engen Zeitplan geschuldet. "Man muss hier ein Planspiel machen. Dass hier alles durch Zufall genial gelingt oder durch Zufall eine totale Katastrophe wird, das kommt nicht vor." Obwohl ein Regisseur nur dreieinhalb Wochen Probenzeit hat.

Warum aber funktioniert das am Ende dann doch? "Alle Kollegen," sagt Baumgarten, "beschreiben dieses seltsame Wunder hier, dass man wegen der Fokussierung auf das Material, auf Wagner, in den dreieinhalb Wochen eine Grundlage schaffen kann. Mit den Solisten und auch mit dem Chor, der szenisch sehr gut ist. Auch bei Änderungen. Wo sonst drei oder vier Ansagen nötig sind, funktioniert es hier ad hoc."

Zudem erfordere der Raum aufgrund seiner Höhe und Größe eine Spielweise, die eigentlich kein feines psychologisches Kammerspiel zuließe. "Man müsste hier eigentlich zwei Inszenierungen machen. Ab Reihe 19 funktioniert nur noch Bildertheater - weil die Figuren so weit weg sind, dass man kaum noch etwas sieht. Und für die erste bis achte Reihe kann man extrem gut Kammertheater spielen." Die Lösung dieses Dilemmas wäre eine Projektion auf eine Großleinwand über der Bühne. Aber an solche technische Neuerungen ist in Bayreuth nicht zu denken.

Als Christoph Schlingensief hier 2004 den "Parsifal" machte, musste für teures Geld eine bis dato nicht vorhandene Drehbühne gekauft werden. Und übertitelt wird bis heute nicht. Der Geist des Gründers und Saalarchitekten ist eben noch immer übermächtig.

Um einen fürs Publikum stimmigen Gesamtklang zu produzieren, müssen die Sänger, wenn sie an der Rampe stehen, ein bisschen nach dem Orchester einsetzen, wenn sie weiter hinten stehen, müssen sie zusammen mit dem Orchester einsetzen. Deshalb gibt es für den Chor Extradirigenten an den Bühnenseiten. Diese spezielle Akustik erzwingt denn auch gewisse szenische Lösungen. "Das Inszenieren des Chors in Bayreuth ist nicht nur eine Aufgabe des Regisseurs," sagt Baumgarten, "sondern auch die des Chordirektors. Man ist immer erst beleidigt, dass einem das als Regisseur aus der Hand genommen wird. Ich war es auch. Aber er kennt halt das Haus wirklich gut, und die Klangwirkungen, die er herstellen will, funktionieren dann eben auch nur so. Da muss man dann irgendwann auch mal klein beigeben." Den Chordirektor machen lassen und dann schauen, was dann noch szenisch geht: eine harte Nuss für einen die Allmacht gewohnten Regisseur.

Aber Baumgarten ist niemand, der mit einem fixen Konzept in die Proben geht. Sondern sich im Vorfeld vor allem mit der Frage beschäftigt, was der zentrale Aspekt eines Stücks sei. Was aber ist das Wesentliche im "Tannhäuser"?

Skepsis schwingt mit bei Baumgarten, allzu oft hat er seine Grundidee schon erläutert: "Der Widerspruch zwischen dem apollinischen Leben in Ordnung, Regression, Traum, Arbeit Struktur, Gemeinschaft - und auf der anderen Seite dem Leben im Dionysischen, im Stofftrieblichen, sich selbst Auflösenden. Dieser dauernd währende Prozess ist Lebensbedingung - das ist meine Behauptung. Aber es gibt da nicht These-Antithese-Synthese, sondern nur These-Antithese, und man muss die Homöostase zwischen beidem herstellen. Also das Gleichgewicht des Widerspruchs, der permanent läuft. Das schafft man natürlich nicht, nie im Leben. Also hat man Phasen, wo man dem Rauschhaften zugeneigt ist, und dann wieder Phasen, in denen man zu regressiv wird und nur noch in Strukturen und Ordnung denkt."

Das ist fabelhaft abstrakt ausgedrückt und erklärt nicht ansatzweise, was der Alkoholator damit zu tun haben könnte. Aber mittlerweile hat ihn auch die Männersängercrew auf der Bühne entdeckt und macht sich ohne alles Grübeln begeistert an ihn heran.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2011/rus
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