1. Mai in Berlin:Die Ruhe ist explodiert

Unruhen am 1. Mai in Berlin sind unvermeidlich, doch dieses Jahr verlagern sie sich von Kreuzberg nach Neukölln. Ein Streifzug durch das Demonstrationsgebiet.

Hans-Peter Kunisch

"Fünfmal", sagt Clemens nachts um halb drei, "hat das Haus, in dem ich wohne, in den letzten sechs Jahren den Besitzer gewechselt". Es steht in der Friedelstraße, die an ihrem Anfang deutlich breiter ist, weil hier bereits vor hundert Jahren die Tram durchfuhr, die Neukölln mit Kreuzberg verband. "Vervierfacht" habe sich die Miete für ihr Studio, erzählt eine Fotografin in der Sanderstraße, die rechts von der Friedel abgeht. Die Tram kann sich nicht darum kümmern. Sie sieht auf der linken Seite einen Designer-Dessousladen, daneben ein exotisches Restaurant, zu teuer, für das, was es bietet.

1. Mai, Krawalle, ddp

Der 1. Mai in Berlin: Unruhen sind unvermeidlich.

(Foto: Foto: ddp)

Die Tram wendet sich ab. Auf der rechten Seite hat sie schon einen anderen Modeladen und ein Bio-Geschäftchen übersehen. Vor "Fräulein Frost", einer Eisdiele, bei der draußen Schlitten stehen, hätte sie sich beinahe ausgeruht. Nach hundert Metern biegt sie links in die Pflügerstraße, schlängelt sich rechts vor zum Reuterplatz. Dort hat vor zwei, drei Wochen das "Sahara" aufgemacht, ein sudanesisches Imbissrestaurant, aus dessen Lautsprecher Peter Fox' "Haus am See" erklingt: "Hier bin ich gebor'n und laufe durch die Straßen!/ Kenn die Gesichter, jedes Haus und jeden Laden!/ Ich muss mal weg, kenn jede Taube hier beim Namen./ Daumen raus ich warte auf 'ne schicke Frau mit schnellem Wagen."

Das könnte klappen. Nur die vielen Pflastersteine in den engen und, wenn es heiß wird, staubigen Seitenstraßen stören noch. Was sich auch die 1.Mai-Demonstranten denken könnten, die, zum ersten Mal seit den achtziger Jahren, Nord-Neukölln in ihren Trampelpfad miteinbezogen haben. Vom Kottbusser Damm soll es in Richtung Hermannplatz gehen, von dort über die Sonnenallee in die Friedelstraße, an all den netten neuen Läden vorbei, und wieder nach Kreuzberg zurück.

Die Ruhe Neuköllns, die jeder spürte, der noch vor vier Jahren eine der hinteren Brücken über den Landwehrkanal nahm, ist explodiert. Aber es ging bislang nicht in Richtung Gewalt, die sich mit dem Skandal um die Rütli-Schule doch schon angekündigt hatte. Es war der Boom, der kurz danach begann und sich in die verschiedensten Gegenden des neuen Neukölln, das innerhalb der Ringbahn liegt, fraß - je nach Kreuzbergdistanz über Nacht oder noch im Warten begriffen. Die Quartiersmanagementprosa jedenfalls blüht, selbst im noch recht friedlich vor sich hinträumenden Körnerkiez: "Ringsum den Emser Platz als auch die Emser Straße hoch haben sich bereits Nutzer (vor allem aus dem kulturellen Bereich) angesiedelt, die dieses Potenzial erkannt haben und erfolgreich nutzen. Das Angebot reicht hierbei von Lesungen, Konzerten, Filmabenden über Auktionen und Nähkurse bis hin zu sozialen Angeboten."

Ein Ort, der das alles kombiniert, ist die Kneipe des Kulturvereins Werkstatt Berlin in der Emser, die von fünfundzwanzig Leuten betrieben wird, die einem anderen Beruf nachgehen, und vom Bierverkauf fünf Ateliers im Rückgebäude finanzieren. Am Mittwochabend brummt der Laden, "Portraitparty". Das Publikum hat nichts Sozialvereinsmäßiges. Leute Mitte zwanzig sitzen sich gegenüber und zeichnen drauflos, während im Hintergrund das Kneipenleben weitergeht.

Redet man hier nicht in letzter Zeit von staatlicher Hilfe für Underground-Kneipen, Mikrokrediten für Leute, die den Kiez beleben? Davon, meint Patrick, der sich auskennt, habe er noch nichts gehört. "Am wichtigsten war natürlich die Zwischennutzungsidee, die all die leeren Läden für Nutzer mit wenig Geld geöffnet und die Szene nachgezogen hat."

Auch die Literatur strengt sich an. Horst Bosetzkys Familiensage steht für die Geschichte; mit dem Ex-Taxifahrer Uli Hannemann und seinem "Neulich in Neukölln" von 2008 hat der Boom seinen Autor gefunden. Etwas langsamer, genauer, einfühlsamer lesen sich Johannes Groschupfs 2009 erschienene "Hinterhofhelden", die in die Mitte der Achtziger Jahre zurückführen, einen bundesdeutschen Taugenichts ins proletarisch-kleinbürgerliche Milieu der Gegend um die Fuldastraße versetzen. Es beginnt mit einer Beschwörung des Geruchs, der aus den Seitenstraßen kommt, "aus Küchenabfällen, Kohlsuppe und feuchten Zeitungen. Die Neuköllner nehmen ihn längst nicht mehr wahr. Sie tragen ihn mit sich, wenn sie aus den Häusern treten (...) In den Seitenflügeln parterre riecht es nach nassem Hund, nach Niere und Pansen vom Freibankschlachter. Im vierten Stock Vorderhaus riecht es nach Kaffee und Rätselheften, der Fernseher läuft den ganzen Tag."

"Städtebaulich ganz außerordentlich leckere Anlage"

Nur im Rollbergviertel ist noch immer alles anders, weder alternativer Boom noch Romantik. Keine Cafés, keine Galerien, keine Lesungen, keine Konzerte, keine Geschäfte, kein Leben. Dort, wo die Sozialsiedlungen nach den Sanierungsmaßnahmen der Siebziger aussehen wie übergroße Implantate, wie Touristenburgen im Süden Teneriffas, ohne Balkon und Meer, trifft man an einem lauen Frühlingsabend keinen Menschen. Dort, wo Güner Yasemin Balcis 2008 erschienener Roman "Arabboy" spielt, der die Entstehung der Neuköllner Ausländerghettos und Gewaltszenen zum Thema hat, möchte keiner länger bleiben als nötig.

Inzwischen haben die Stadtplaner gelernt, doch ihr Problembewusstsein unterscheidet sich noch immer von dem der Anwohner, die sich über das neue "kreative" Umfeld mit Atelier & Co. und ein paar illegale Bars in Hinterhöfen freuen, aber Angst vor dem "Kippen" in Richtung Touri-Meile Mitte haben.

Im Schillerkiez, der durch das Ende des Flughafens Tempelhof "aufgewertet" und von Stadtplaner Dieter Hoffmann-Axthelm schon vor Jahren als "städtebaulich ganz außerordentlich leckere Anlage" bezeichnet wurde, gibt es mit dem "Froschkönig" eine Literatur- und Pianobar, die von außen wie eine gewöhnliche Berliner Kneipe aussieht. Hier werden jeden Mittwoch Stummfilme mit Live-Klavierbegleitung gezeigt, finden Konzerte und Lesungen statt. Ohne jede Unterstützung, Zwischennutzung. Mit Gäste unterschiedlichster Herkunft, zwischen 20 und 70. Wenn man ein Buch sucht, das der Atmosphäre der Kneipe in etwa entspricht, kommt man bis zu Hermann Kestens "Glückliche Menschen" von 1932 zurück, die selbstverständlich nicht glücklich sind. "Sie saßen in einem Café in Neukölln", heißt es dort am Anfang, "einer Stadt, die zu Berlin gehört. 'Aber wir können uns töten', sagte sie. Er wurde ungeduldig. Er konnte diese Art Diskussion nicht mehr ertragen. Er dachte, daran sehe ich, dass ich alt geworden bin. Ich habe kein Vergnügen mehr an unnützen Wörtern." Max Blattner, der da mit Else Pfleiderer spricht, ist gerade dreißig geworden. Man kann vermuten, dass ihm Sanierungskonzepte wie Protestmärsche ebenfalls missfallen würden.

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