46. Internationales Filmfestival Karlovy Vary:"Das Beste vom Besten"

Cannes reloaded: Wer das wichtigste Großfestival des Jahres versäumt hat, dem wurden beim Filmfestival in Karlsbad alle Highlights von der Croisette nachgereicht - und überzeugende Weltpremieren als Beigabe. Ein Besuch.

Von Paul Katzenberger

46th Karlovy Vary Film Festival

Der Kristallglobus ist das Wahrzeichen des Filmfestivals Karlsbad, das sich besonders dem Kino Osteuropas zuwendet.

(Foto: dpa)

Hoppla, da sind ja ganz schön viele Debütanten dabei: Die Erkenntnis, dass er ein Programm mit ungewöhnlich vielen Erstlingsarbeiten bestückt hatte, kam Karel Och erst, als er durch den druckfrischen Festivalkatalog blätterte. Schnell rechnete der neue künstlerische Leiter des Internationalen Filmfestivals in Karlovy Vary genauer nach - und siehe da, der erste Eindruck verdichtete sich in einer stattlichen Zahl: Bei 54, also bei einem guten Viertel der insgesamt 199 gezeigten Filme, hatten Filmemacher erstmals Regie geführt.

Die Episode verrät viel über die alljährliche Filmschau in dem böhmischen Kurort. Etwa, dass die Begeisterungsfähigkeit der jungen Festivalmacher für gutes Kino schon mal dazu führt, andere Aspekte als die reine Qualität der ausgesuchten Filme aus den Augen zu verlieren.

Debütanten eine Chance zu geben, passt allerdings ohnehin zu diesem Festival, denn womit kann man im internationalen Filmgeschehen mehr überraschen als mit frischen Talenten? Und Entdeckungen hat Karlovy Vary (Karlsbad) in den vergangenen Jahren immer wieder präsentiert:

Der Südkoreaner Kim Ki Duk war hier schon im Jahr bevor er in Berlin den Silbernen Bären holte, Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" überzeugte die Karlsbader Jury bereits weit bevor der Film den Auslands-Oscar für Deutschland abräumte und Jean-Pierre Jeunets Kassenschlager "Die fabelhafte Welt der Amelie" startete seine sagenhafte Erfolgsserie in der Beschaulichkeit des habsburgerischen Kurortes.

Und in diesem Jahr? Istvan Szabo ("Mephisto", "Oberst Redl") musste sich als Vorsitzender der Jury in Verschwiegenheit üben, doch eine Einschätzung des diesjährigen Festivals war ihm dann doch zu entringen: In einer Zeit, "in der der europäische Film die Zuschauer immer weniger erreicht und die künstlerisch hochwertigen Filme dem Markt verloren gehen, hat das Filmfestival in Karlovy Vary immer wieder Werte definiert, die Aufmerksamkeit verdienen, und in diesem Jahr ist das im Spielfilm-Wettbewerb und in den Nebenreihen erneut gelungen", so der ungarische Kult-Regisseur zu sueddeutsche.de.

Ob unter den vielen Neulingen des diesjährigen Karlsbader Festivaljahrgangs tatsächlich nachhaltige Neuentdeckungen des Weltkinos zu finden waren, bleibt abzuwarten. Kleineren A-Festivals wie Karlsbad fällt es bei der dichten Konkurrenz der zwölf weiteren Filmfestivals mit internationalem Wettbewerb schwer, ein ganzes Programm mit höchstklassigen Filmen zu füllen - selbst die Berlinale hatte da in diesem Jahr ihre Probleme. Dass im Karlsbader Wettbewerb also viel Durchschnittliches zu finden sein würde, kam daher nicht überraschend. Die beiden deutschen Wettbewerbsbeiträge "Die Unsichtbare" von Christian Schwochow und "Lollipop Monster" von Ziska Riemann waren beispielsweise beide solide produziert, blieben insgesamt aber unauffällig. Trotzdem durfte sich Schwochows Hauptdarstellerin Stine Fischer Christensen am Ende über die Auszeichnung als beste Schauspielerin freuen.

Innere Kämpfe

Doch es gab durchaus beachtliche Premieren in Karlsbad zu sehen. Ein interessantes Regiedebüt lieferte der Amerikaner Martin Donovan mit seinem Wettbewerbsbeitrag "Kollaborateur - Collaborator" ab. Donovan, der bislang eine erfolgreiche Schauspielerkarriere absolviert hat ("Insomnia - Schlaflos", "The Sentinel - Wem kannst du trauen?"), gibt seinem Film einen langen Anlauf, der eine eigenartige Spannung aufbaut. Die vielen Zweideutigkeiten und die inneren Kämpfe der Protagonisten (mit Donovan selbst in der Hauptrolle) ziehen den Zuschauer in den Bann, bevor sich lang unterdrückte Wahrheiten mit einem Knall entladen. Der Film bekam zu Recht den Preis der internationalen Kritiker (Fipresci).

Auf subtile Art sprach auch der Kanadier Ivan Grbovic in seinem ersten Spiel- und Wettbewerbsfilm "Romeo 11" die Emotionen der Zuschauer an. Das einfühlsame Portrait des jungen Rami (dargestellt von dem Laiendarsteller Ali Ammar) demonstriert einfach und schonungslos, wie ausgrenzend und stigmatisierend eine körperliche Behinderung für die Betroffenen sein kann.

Der Autor dieses Artikel war Juror der Karlsbader Festivalzeitung Festivaloý Denník.

Kampf um den Selbstwert

British actress Judi Dench arrives at the opening ceremony of the 46th Karlovy Vary International Film Festival in Karlovy Vary

Judi Dench fährt vor dem Karlsbader Premierenpalast vor. Der Stargast des Festivals erlangte weltweite Bekanntheit in der Rolle der "M" seit dem James-Bond-Klassiker "GoldenEye" von 1995. In Karlovy Vary wurde sie für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

(Foto: REUTERS)

"Romeo 11", der im Milieu der libanesischen Minderheit in Montreal spielt, adressiert dabei neben dem ganz persönlichen Kampf Ramis mit seinem Körper und um seinen Selbstwert die generelle Frage nach kultureller Zugehörigkeit im Widerspruch zu freier Selbstentfaltung. Er habe eine Geschichte von allgemeiner Bedeutung in einer ganz speziellen Umgebung erzählen wollen, sagte Grbovic in Karlsbad dazu.

Das Anliegen, universell wichtige Themen in spezifische Sphären zu betten, war in vielen Filmen dieses Festivals zu spüren. Im russischen Wettbewerbsbeitrag "Beduin - Beduine" erzählt Regisseur Igor Woloschin beispielsweise die Geschichte der Ukrainerin Rita (Olga Simonova), die sich von einem homosexuellen Paar aus St. Petersburg als Leihmutter engagieren lässt, um die Behandlung für ihre leukämiekranke Tochter zu bezahlen.

Doch der Plan scheitert, Rita schlittert von einer Katastrophe in die nächste, bevor sie sich völlig neu erfindet und so doch noch Erlösung findet. Der Film, der sehr von der Kameraarbeit Alexej Rodionovs profitiert, wirkt am Ende allerdings zu konstruiert. Was wie eine skurrile Gräuelgeschichte erscheint, die nur in Russland erdacht werden kann, ist für Woloschin ein "Spiegel der modernen Gesellschaft in allen zivilisierten Ländern". Er skizziere die moderne Gesellschaft, die unglücklichen Menschen das Blut aussauge.

Ähnliche Allgemeingültigkeit reklamierte der Italiener Andrea Molaoili für seinen Wettbewerbsbeitrag "Das Juwel - Il gioiellino", dem der tatsächliche Finanzskandal bei dem italienischen Lebensmittelkonzern Parmalat im Jahr 2003 zu Grunde liegt.

Aus "Parmalat" wird in dem Film "Leda", ein ursprünglich mittelständisches Unternehmen aus der italienischen Provinz, das sich aus Größenwahn all der toxischen Finanzinstrumente bedient, die die Welt bei der Immobilienkrise wenige Jahre später an den finanziellen Abgrund führen sollten. An den Fall Parmalat erinnern sich in Deutschland höchstens noch die Experten, für Molaoili ist "Das Juwel" aber nach wie vor relevant: "Der Grundfehler bestand darin, dass wir glaubten, allein aus Geld ließe sich immer noch mehr Geld machen. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass dieses Konzept gescheitert ist, auch wenn einige seiner Befürworter immer noch so handeln, als ob nichts passiert sei."

Wichtige Nebenreihen

Der Hauptpreis des Festivals ging allerdings an einen Film, der sich von der politisch-allegorischen Filmtradition seines Heimatlandes ganz bewusst abgrenzt: Stellte das israelische Kino bislang gerne politische Bezüge her, so setzt das Drama "Restauration - Restoration" von Regisseur Joseph Madmony ganz auf die Komplexität der dargestellten Figuren. Erzählt wird die Geschichte von Jaakov Fidelman (Sasso Gabay), einem Restaurateur antiker Möbel, der nach dem Tod seines Geschäftspartners vor dem Konkurs steht. Sein entfremdeter Sohn Noah (Nevo Kimchi) setzt ihn unter Druck, das Geschäft gegen seinen Willen zu verkaufen. Unverhofft bietet sich ein Lösung, als sich Lehrling Anton (Henry David) anbietet, den heruntergekommenen Steinway-Flügel aus der Gerümpelecke des Ladens zu restaurieren. Durch den Verkauf des wertvollen Stücks wäre das Geschäft gerettet.

Madmonys subtile Dreiecksgeschichte ist bildgewaltig, reflektiv in der Gangart und griesgrämig im Ton. Die Figuren wirken glaubwürdig und die Emotionen echt - der Film hat sich den mit 30.000 Dollar dotierten Kristallglobus verdient.

Der Wettbewerb ist allerdings nur eine der Attraktionen des Karlsbader Festivals - viele der professionellen Festivalbesucher kommen vor allem wegen der Nebenreihen in den Kurort. Denn wer auf einem der Großfestivals ein Highlight versäumt hat, bekommt es nirgendwo so bequem noch vor den Kinopremieren serviert wie in Karlsbad.

Die Liste der Attraktionen dieser Festivalsaison reichte in diesem Jahr von "Attenberg", "Post mortem" und "Mehrheit - Cogunluk" (alle Venedig 2010) über "Nader und Simin - eine Trennung" (Berlin 2011) zu einer besonders großen Auswahl von Filmen, die in diesem Jahr in Cannes aufgefallen waren. Zu dieser eindrucksvollen Parade zählten nicht nur der Goldene-Palme-Gewinner "The Tree of Life" von Terrence Malick sondern auch die beiden Grand-Prix-Prämierungen "Der Junge mit dem Fahrrad" der Gebrüder Dardenne sowie "Es war einmal in Anatolien" der türkischen Regiegröße Nuri Bilge Ceylan neben zahlreichen weiteren Glanzstücken wie Akis Kaurismäkis "Le Havre", Andreas Dresens "Halt auf freier Strecke" und Andrej Zvjagintsevs "Jelena".

"Welches andere Festival zeigt das Beste vom Besten von den diesjährigen Wettbewerben in Cannes gerade einmal sechs Wochen nachdem die Goldene Palme verliehen worden ist", fragte die englische Filmbibel Screen International angesichts dieses üppigen Aufgebots.

Unentdeckte Trümpfe

Karlsbad wird außerdem eine große Kompetenz für das vitale Kino Osteuropas zugebilligt, was ähnlich wie die große Zahl von Debüts ins Bild passt. Denn auch hier besteht Überraschungspotenzial: Obwohl die Kinematografie des Halbkontinents in den vergangenen Jahren immer wieder große Auszeichnungen ergatterte, wird sie bei den internationalen Festivals häufig übergangen. So ist etwa der Tscheche Jan Hrebejk über die Landesgrenzen hinweg kaum bekannt - trotz seiner Oscar-Nominierung vor zehn Jahren und dem Dauererfolg beim heimischen Publikum mit ständig neuen Filmen.

46. Internationales Filmfestival Karlovy Vary: Szene aus dem Film "Belvedere" von Ahmed Imamovic: Verpflichtungen gegenüber den geschundenen Lebenden und den Hingemetzelten.

Szene aus dem Film "Belvedere" von Ahmed Imamovic: Verpflichtungen gegenüber den geschundenen Lebenden und den Hingemetzelten.

(Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary)

Die Fokussierung auf das osteuropäische Kino spielt den Karlsbader Festivalmachern also immer wieder Trümpfe in die Hand, die anderswo unentdeckt blieben, und so geschah es auch dieses Jahr. Dem Slowaken Martin Sulik etwa gelang mit seinem Wettbewerbsbeitrag "Zigeuner - Cigán" ein beeindruckendes Drama von Shakespearscher Gewalt im Milieu der Roma-Bevölkerung seines Heimatlandes.

Der Film dokumentiert eindrucksvoll die Ausweglosigkeit, der der 14-jährige Adam (Jan Mizigar) nach dem gewaltvollen Tod seines Vaters ausgesetzt ist. Die ungeschriebenen Gesetze der Roma und die Abweisungen durch die slowakische Mehrheitsgesellschaft werfen ihn immer wieder zurück, während er für ein besseres Leben kämpft. "Wir wollten ein Raum für Diskussion schaffen", sagte Sulik in Karlsbad, dem es um Tabubrüche geht und die Korrektur verzerrter Vorstellungen. Er besetzte daher fast alle Rollen mit Laiendarstellern aus der Minderheit, die eine speziellen Roma-Dialekt beherrschen, und drehte direkt vor Ort in einem übervölkerten Roma-Dorf.

Existenzielle Nöte

Heraus kam dabei ein Drama von großer Authentizität, das aufräumen soll mit dem Bild, Roma seien nichts als ein Haufen Kleinkrimineller. Denn auch dem letzten Zuschauer wurde bei der Karlsbader Premiere klar, dass der ständige Mangel an Strom, Wasser, Heizung und einer ausreichenden Gesundheitsversorgung vielen keine andere Wahl lässt, als die Gesetze zu brechen.

Existenzielle Nöte beschrieb in Karlsbad auch der Bosnier Ahmed Imamovic, dessen Drama "Belvedere", die in der Reihe "East of the West" lief. Die Sektion, die für Filme aus Osteuropa reserviert ist, hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, und es ist das erklärte Ziel der neuen künstlerischen Leitung unter Karel Och, ihr noch mehr Gewicht zu verleihen.

In "Belvedere", benannt nach einem Flüchtlingslager, wendet sich Imamovic dem Völkermord von Srebrenica zu, dem letzten großen Massenmord des 20. Jahrhunderts. Im Westen wird dem Genozid nur noch punktuell Aufmerksamkeit gewidmet, dabei kämpfen die Überlebenden auch 16 Jahre danach Tag für Tag mit den Folgen.

Die Themen des Ostens

Stellvertretend für dieses Leid steht bei Imamovic die quasi mythische Figur der Ruvejda (Sadzida Setic), die eingeengt von den Verpflichtungen gegenüber den geschundenen Lebenden und den Hingemetzelten ihren Mann, Vater und ihre Kinder betrauert. Das Leben in der deprimierenden Umgebung des Flüchtlingslagers und der Hohn der Täter machen es ihr unmöglich, mit der Vergangenheit abzuschließen, und so greift sie zum äußersten Mittel. Er wolle mit seinem Film nicht alte Gräben aufreißen, betonte Imamovic in Karlsbad, sondern nur einen Beitrag dafür leisten, dass es nie wieder ein Srebrenica gibt.

Die wichtigste Botschaft des Karlsbader Festivals war in diesem Jahr, dass die Filmemacher aus den osteuropäischen Nachbarländern zunehmend ihre spezifisch eigenen Themen auf die Agenda setzen. Das ist gut so, denn ihre Stoffe sind auch Angelegenheiten des Westens, auch wenn der sie häufig nicht zu erkennen vermag. Die Roma als größte Minderheit Europas verdienen jedoch Aufmerksamkeit für ihre unbewältigten Probleme ebenso wie die Zeit für einen echten Frieden auf dem Balkan überfällig ist.

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