65. Filmfestival Cannes:Einer wird gewinnen

Wes Anderson, Jacques Audiard und Roman Polanski: Es ist ein starker Auftakt des Filmfestivals in Cannes. Aber keine einzige Regiearbeit von einer Frau hat es diesmal in den Wettbewerb geschafft. Das ruft Proteste hervor.

Susan Vahabzadeh, Cannes

Wenn sich abends zehntausend Festivalgäste und Scharen von Schaulustigen auf die Croisette ergießen, verursachen sie einen infernalischen Lärm. Die Musikbeschallung auf der Treppe vor dem Festivalpalast ist da nur ein leises Stimmchen, das versucht, Stimmung zu schaffen für den Film, dem der Trubel gilt.

Bei der Eröffnung in diesem Jahr war das Thema eine Reise ins Jahr 1965 mit Wes Anderson, mit dem Eröffnungsfilm "Moonrise Kingdom". Bob Dylans "Like A Rolling Stone" war dann zwar aus dem richtigen Jahr, aber zu posierenden Filmsternchen auf dem roten Teppich passt er trotzdem nicht. Und auch nicht zum Film, der nicht so recht von dieser Welt ist, egal, in welchem Jahr er spielt.

In fast jedem Film von Wes Anderson gibt es eine Einstellung, in der der Ort zum Puppenhaus wird - ein Querschnitt durch ein Haus, Fahrten durch Wände und Decken. Auch das Haus von Suzys Eltern hat er so gefilmt. Sie ist zwölf, ein Mädchen mit kajalumrahmtem Blick und einem finsteren Gemüt. Frances McDormand und Bill Murray spielen Suzys Eltern, Bruce Willis ist der Insel-Cop, und Edward Norton leitet ein irrwitziges Pfadfinderlager, aus dem Sam, abhaut - ein Waisenkind, dass seine Pflegeeltern nicht wiederhaben wollen. Sam und Suzy hauen ab, spielen Erwachsensein am Strand, zwei kleine Spinner, die sich aneinander festhalten, weil Erwachsenwerden furchtbar schwierig ist.

Eine traurige Geschichte eigentlich, aber märchenhaft und sehr komisch erzählt. "Moonrise Kingdom" ist ein Gemälde voller verrückter Details, und McDormand, Murray, Norton, Willis und die Kinder tragen auch noch den durchgeknalltesten Einfall von Wes Anderson mit tierischem Ernst vor. Am besten aber ist "Moonrise Kingdom" immer dann, wenn man spürt, dass es Anderson in seiner virtuos konstruierten Kunstwelt um ganz echte Gefühle und Bedürfnisse geht. Solidarität, Loyalität - dafür steht das Pfadfinderlager mit seinem besessenen Naiven als Anführer, und man sieht sie in Bruce Willis hundstreuem Blick, als er den Waisenjungen in sein Herz schließt; als zwei Verlorene zusammenfinden, für die alle vermeintlich natürlichen Bindungen versagt haben.

Anderson hätte den Ritterschlag, das Festival zu eröffnen, nicht verdient, hätte "Moonrise Kingdom" nicht doch ein wenig mehr Tiefe als "Die Royal Tenenbaums" oder "Life Acquatic with Steve Zissou", die über ein sehr wiedererkennbares visuelles Konzept und einen eigenwilligen Sinn für Humor hinaus viel weniger zu bieten hatten.

Aber auch "Moonrise Kingdom" wirkt sehr leicht neben "De rouille et d'os", dem neuen Film von Jacques Audiard. Audiard hat zuletzt mit "Ein Prophet" gezeigt, wie er mit einfachen Mitteln, kleinen Zeitlupen, Schnitt-Technik, Überbelichtungen, eine ganz eigene Ästhetik herstellen kann; und er hat auch damals sehr präzise die Interaktion von Individuum und Umwelt nachvollzogen, eine kriminelle Karriere analysiert, wie sie aus dem Zusammenspiel von äußeren Bedingungen und eigener Schwäche entsteht.

Keine einzige Regiearbeit von einer Frau

Ali in "De rouille et d'os", Rost und Knochen, ist auch ein Außenseiter. Mit seinem kleinen Sohn taucht er bei seiner Schwester auf, die wenig Geld hat, ihm aber auf die Füße hilft. Ali ist ungehobelt, aggressiv und nicht besonders klug. Erst im Umgang mit Marie (Marion Cotillard) erkennt man etwas Liebenswertes an ihm. Sie gehört nicht der selben Schicht an, und die beiden werden erst Freunde, nachdem sie bei einem Unfall beide Beine verloren hat. Aber nur er kann ihr helfen, weil es ihm auf entwaffnende Art egal ist, dass sie im Rollstuhl sitzt.

Audiards "Prophet" hat sich selbst verloren, in "De rouille et d'os" schaut man dem umgekehrten Prozess zu, einer Menschwerdung: wie ein Kerl, der so um seine Existenz kämpfen muss, dass er sich nur gefühllos durch die Welt boxen kann, langsam Bindungen entwickelt, Verantwortungsgefühl, wie einer überhaupt erst lernt, über Zusammenhänge nachzudenken.

Ein starker Auftakt, und eine solche Konkurrenz tut nicht jedem Film gut: "Baad el Mawkeaa" des Ägypters Yousry Nasrallah, in dem eine Journalistin versucht, die Mubarak-Anhänger in einem Armenviertel für politisches Engagement und soziale Gerechtigkeit zu begeistern, erzählt zwar von ähnlichen psychologischen Prozessen, aber gerade im Vergleich wirkt er hölzern und bemüht.

Keine einzige Regiearbeit von einer Frau hat es diesmal in den Wettbewerb geschafft, einer von 22 Männern wird gewinnen - was eine Reihe von feministischen Organisationen und auch Filmemacherinnen, Virginie Despentes beispielsweise und Coline Serreau, dazu gebracht hat, mit einem offenen Brief und einer Petition Protest einzulegen. Cannes war tatsächlich schon weiter, im vergangenen Jahr waren vier von zwanzig nominierten Filmemachern Frauen, aber es ist immer ganz schwierig zu unterstellen, die Entscheidungen seien das Resultat männlicher Ignoranz, wenn man weder die Filme in der Konkurrenz gesehen hat noch jene von Frauen, die abgelehnt wurden. Sagen wir mal so: Es wäre wohl taktvoller gewesen, nicht ausgerechnet einen frauenfreien Wettbewerb mit einem Plakat von Marilyn Monroe mit Kussmund zu bewerben.

Und dass dann ausgerechnet als erster Film außer Konkurrenz "Roman Polanski: A Film Memoir" lief, trägt bei vielen Feministinnen wahrscheinlich auch nicht zur Entspannung bei. "A Film Memoir" ist ein langes Gespräch, unterlegt mit alten Fotografien und immer wieder mit Ausschnitten aus Polanskis Filmen, Momenten, in denen man sehr deutlich sieht, wie der Weg das Werk geprägt hat, die Kindheit im Ghetto, die Ermordung seiner Frau Sharon Tate in Los Angeles. Der Episode, in der er nicht Opfer, sondern Täter ist, ist er nicht aus dem Weg gegangen.

Samantha Geimer, in deren Fall sich Roman Polanski 1977 des Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen schuldig bekannt hat, sagt hier selbst in einem Talkshow-Ausschnitt, dass sie ihm vergeben habe, aber nicht denen, die sie nicht vergessen lassen. Sie fordert, woran auch Polanski sich abarbeitet in diesem Film: Die Macht über die eigene Erinnerung, selber entscheiden zu dürfen, was man nicht vergessen will und was man hinter sich lassen darf.

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