65. Filmfestival Cannes:Für das Schlechte sind die Menschen zuständig

Schillernde Charaktere entlockt Regisseur Lee Daniels in "Paperboy" seinen Darstellern Nicole Kidman und John Cusack: sie eine alternde Barbiepuppe, er fies und schmierig. Der Teufel bleibt dabei außen vor - anders als im Wettbewerbsfilm "Post tenebras lux" von Carlos Reygadas.

Susan Vahabzadeh, Cannes

Man ist ja ganz froh, wenn man im Kino gelegentlich feststellt, dass die Bilderwelt noch kein globaler Einheitsbrei geworden ist und manche Kulturen eine eigene Art haben, Dinge darzustellen. Der Mexikaner Carlos Reygadas hält beim Sex immer ordentlich mit der Kamera drauf, und man ist dankbar, wenn anderen Leuten originellere Szenen einfallen.

65th Cannes Film Festival - The Paperboy

Wie man Liebe macht, auch unter widrigen Umständen. Nicole Kidman als blonde Puppe in Lee Daniels' "The Paperboy", einem Florida-Thriller aus den Sechzigern. 

(Foto: Festival)

Lee Daniels hat in seinem Wettbewerbsbeitrag "The Paperboy" beispielsweise einen sehr komischen Telepathie-Sex zwischen Nicole Kidman und John Cusack inszeniert, im Besucherraum eines Gefängnisses, mit zwei Metern Sicherheitsabstand. Und Abbas Kiarostami hat, ganz findig, in "Like Someone in Love" eine jugendliche Halbnackte ganz verschämt nur über den Umweg einer Spiegelung auf einem Bildschirm gefilmt. Wenn alle immer nur nackt und wild wären, würde es ja langweilig werden.

Die Vorstellung, dass man einen Menschen definieren und charakterisieren kann über das Verhältnis zu seinen Tieren, scheint ja weltweit vorzuherrschen. Den Filmen dieses Cannes-Jahrgangs hat sie ein paar sehr kraftvolle, berührende Szenen beschert: ein Mubarak-Anhänger im ägyptischen Wettbewerbsbeitrag "Baad el Mawkeea", den die Liebe zu seinem hungernden Pferd erst menschlich macht, eine Frau, die wieder zu sich findet, als sie die Hand ausstreckt nach dem Wal, der sie fast umgebracht hat, in Jacques Audiards "De rouille et d'os", und all die wilden Viecher, mit denen die kleine Hushpuppy zusammenhaust in "Beasts of the Southern Wild" von Benh Zeitlin, in der Nebenreihe "Un certain regard":

Hushpuppy lebt mit ihrem Vater in der Wildnis eines Phantasie-Südstaatengebiets, dem die Überflutung droht, er versucht sie fit zu machen fürs Überleben, denn er selbst ist todkrank. "Beasts of the Southern Wild" ist voller überwältigender Phantasien, in denen Hushpuppys Welt von Urzeittieren überrannt wird, die sie in den Griff bekommen muss.

Eine rührende, virtuos erzählte Geschichte - und eine echte Entdeckung, Zeitlins erster Film überhaupt. Das ist erfrischend, denn im Wettbewerb haben die meisten Regisseure schon mal irgendwann einen Preis in Cannes bekommen.

Eine unsortierte tour de force

Wie Carlos Reygadas, dessen "Schlacht im Himmel" 2005 für einige Aufregung sorgte und der für "Stellet Licht" 2007 mit einem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Irgendwie hat das die Erwartung genährt, der Mann werde eines Tages ein Arthouse-Regiegott. Sein neuer Film "Post tenebras lux", Ergebnis fünfjähriger Schaffenszeit, kreist um eine bête humaine: Juan, in dem selbst seine Hunde die schlechtesten Eigenschaften hervorbringen. Kaum begegnen wir ihm, erschlägt er fast seinen Lieblingshund, weil er auf die Terrasse gemacht hat - und erzählt dann seiner Frau auf eine dermaßen selbstgerecht lasche Art, wie mies er sich deswegen fühlt, dass man für den Rest des Films schon sehr tief in seinem Herzen graben muss, um eine Spur von Mitgefühl aufzubringen für diesen Mann.

Juan lebt mit seiner Frau und den Kindern in einer Luxusvilla mitten im Dschungel Mexikos, und Reygadas macht daraus eine prätentiöse, esoterische, gedanklich viel zu unsortierte tour de force. Er hat ein paar sehr schöne Einfälle - den rotleuchtenden Zeichentrickteufel beispielsweise, der nachts durchs Haus geistert, ein bedrohlicher Verwandter des rosaroten Panthers, den Juans Kinder im Fernsehen anschauen, oder das nächtliche Unwetter auf einer Weide, das Juans kleine Tochter in einer Traumsequenz durchstapft.

Aber dazwischen gewürfelt sind eine Restaurantszene mit Figuren, die im Film nie wieder auftauchen, ein Rugbyclub aus einer anderen Galaxie, und weite Teile des Films sind durch zwei nebeneinanderliegende Kreise über dem Bild verzerrt - wahrscheinlich schauen wir da durch die Augen des Teufels auf die Welt, der wohl an Astigmatismus leidet.

Nirgendwo ist Licht

Mittendrin landen Juan und seine Frau dann in einer anderen Dimension - in Form eines französischen Swingerclubs. Hat sie da schon der Teufel geholt? Man weiß es nicht. Die Saunas, in denen es dort getrieben wird, heißen jedenfalls Duchamp- und Hegel-Zimmer, womit Reygadas wohl darauf hinweisen will, dass sein Werk nur im ganz großen Kontext einzuordnen ist - oder der Zufall bei der Erschaffung eine große Rolle gespielt hat. Und nirgendwo ist Licht.

Das Festivalprogramm ist da auf der Suche nach der Balance zwischen der Sorte Filmkunst, die nur hier ihre Chance bekommt, und den Publikumsmagneten, für die die großen Stars über den roten Teppich flanieren - letzteres sollte Lee Daniels ("Precious") mit "The Paperboy" erfüllen, mit entsprechender Besetzung: Matthew McConaughey als Journalist in den späten Sechzigern, Zac Efron als sein kleiner Bruder, John Cusack als zu Unrecht des Mordes verurteilter Todestrakt-Insasse und Nicole Kidman als seine Brief-Liebe.

Daniels ist ein echter Neuzugang in Cannes, und aus seinen vier Stars hat er richtig schillernde Charaktere herausgeholt - Nicole Kidman ist eine verzweifelte alternde Barbiepuppe, Mädchenschwarm McConaughey ein von Narben verzierter schwuler Masochist und John Cusack war noch nie so fies und schmierig.

Lieber spät recht haben als früh unrecht

Den Roman von Pete Dexter, der dem Film zugrunde liegt, wollte einmal Pedro Almodóvar adaptieren - die Story hätte bei ihm wahrscheinlich mehr Tiefe entwickelt. Aber der Thriller, der sich in den dampfigen Sümpfen Floridas entspinnt, ist bei Daniels schon mal unterhaltsam geraten.

McConaughey recherchiert mit seinem schwarzen Kollegen (David Oyelowo), der vorsichtshalber vorgibt, Engländer zu sein, die Hintergründe des Mordes an einem brutalen Sheriffs. Die Bürgerrechtsbewegung schimmert immer wieder durch an den Rändern der Geschichte, aber eigentlich geht es um Geschwindigkeit und Sorgfalt, ein bisschen auch um Journalismus und darum, dass man nichts erstreiten soll, bevor man sich das Ergebnis genau überlegt hat.

Lieber spät recht haben, zitiert McConaughey seine Mutter, als früh unrecht. Hier läuft alles darauf hinaus, einen Mann zu befreien, der auch aus den falschen Gründen hinter Gittern besser aufgehoben wäre. Eines ist bei Lee Daniels jedenfalls völlig klar: Für das Schlechte, was sie tun, sind die Menschen selbst verantwortlich. Den Teufel lässt er aus dem Spiel.

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