60. Berlinale: Shutter Island:Hier stimmt was nicht

Als habe sich der Weiße Hai an Speed-Junkies überfressen: Im Schizophrenie-Thriller Shutter Island wirkt alles drei Nummern zu groß - weil Regisseur Martin Scorsese ein schlechter Lügner ist.

Tobias Kniebe

Dieser Film beginnt mit einem Rätsel. Es ist allerdings nicht das Rätsel, das er seiner Hauptfigur und seinen Zuschauern zu lösen aufgibt.

60. Berlinale: Shutter Island: Ben Kingsley, Mark Ruffalo und Leonardo DiCaprio sind die Stars in "Shutter Island". Der Regisseur jedoch ist eine Fehlbesetzung: Martin Scorsese trägt in seinem neuen Werk viel zu dick auf.

Ben Kingsley, Mark Ruffalo und Leonardo DiCaprio sind die Stars in "Shutter Island". Der Regisseur jedoch ist eine Fehlbesetzung: Martin Scorsese trägt in seinem neuen Werk viel zu dick auf.

(Foto: Foto: Concorde)

Stattdessen stellt man sich gleich andere Fragen: Warum muss hier das Meer schon zu Beginn so furchtbar bleigrau und unheilsschwer wabern, auf dem US-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) zur Gefängnisinsel Shutter Island fährt? Warum ragt diese Insel, als sie dann auftaucht, als menschenfeindlicher, schwarzer Felsenklotz aus dem Wasser? Wieso muss sie auch musikalisch mit einem mehrfach wiederholten, dreifachen Bass-Donnerschlag begrüßt werden, als habe sich der Weiße Hai an Speed-Junkies überfressen?

Alles hier, von den lachhaft grimmigen Wachen über die Stacheldraht- und Felsenfestungs-Orgien der Filmarchitektur bis zu den Holocaust-Zombiegesichtern der Insassen, wirkt drei Nummern zu groß, um ernst gemeint zu sein.

Warum das so ist, darauf gibt es lange keine Antwort. Stattdessen scheint es so, als habe in Shutter Island ein Regisseur, dem wirklich alle Möglichkeiten des Filmemachens offenstehen, jedes Augenmaß für die Wahl seiner Mittel verloren. Denn was gibt es eigentlich zu erzählen?

Erst einmal nicht allzu viel: Der Kriminalbeamte Teddy Daniels geht im Jahr 1954 auf einer Gefängnisinsel einer Vermisstenanzeige nach. Im Ashcliffe Hospital, in dem offenbar die gefährlichsten Irren der USA versammelt sind, die paramilitärisch bewacht werden müssen, ist eine Kindsmörderin aus ihrer Zelle verschwunden. Nur weiß niemand wie. Mit seinem Partner stellt Teddy Fragen, die keine befriedigenden Antworten finden. Die Anstaltsleiter, gespielt von Ben Kingsley und Max von Sydow, wirken hilfsbereit, aber sinister. Etwas stimmt hier nicht, so viel ist klar.

Im Video: Der neue Film von Martin Scorsese, "Shutter Island", hatte am Samstag abend bei der Berlinale Weltpremiere. Der Regisseur und sein Hauptdarsteller Leonardo di Caprio waren Stars auf dem roten Teppich.

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Diese steile Sorgenfalte

Nur: Wie oft kann man das betonten, ohne in filmischen Tautologien zu versinken? Jeder durch lange Flure gellende Schmerzensschrei, jeder sturmgepeitschte Ast, der gegen ein nächtliches Fenster klopft, jedes Kopfschmerzpulver, das dem migränegepeinigten Teddy zur Erleichterung dargeboten wird - sie erzählen immer dieselbe, paranoide Geschichte.

Bei allem Staunen über das feinziselierte Horror-Kunsthandwerk, das hier dargeboten wird: Es geht nichts voran. DiCaprio hat schon in der ersten Szene diese steile Sorgenfalte zwischen den Augen, die großes Drama signalisiert, und ein irres fiebriges Flackern im Blick. Steiler kann die Sorgenfalte dann gar nicht mehr werden, und auch bei dem fiebrigen Blick sind nur noch ein paar Nuancen mehr drin.

Das wirkt alles auch deshalb so seltsam, weil Scorsese ja nun wirklich weiß, wie man in äußerster, zwingender Reduktion von Menschen erzählt, die langsam den Verstand verlieren. Zwei Worte: Taxi Driver. Man kann nicht verraten, um was es letztlich geht, ohne das ganze Unternehmen seines Sinns zu berauben.

Trotzdem muss wohl gesagt werden, dass Shutter Island nicht in der Tradition jener gegenkulturellen Befreiungsphantasien steht, die das unbezähmbar kreative Individuum gegen das psychiatrische Zwangssystem von Strafen, Ruhigstellen und Lobotomisieren stellen. Hier darf kein unbesiegbarer Indianer zu guter Letzt ins wahre Leben aufbrechen - eher im Gegenteil. Unter der großen Horroroper der Folterpsychiatrie versteckt sich eine verzagte Geschichte.

Der Regisseur als Fehlbesetzung

Schließlich erkennt man dann, warum Scorsese, der sich treu in den Dienst dieser Geschichte des Romanautors Dennis Lehane stellt, hier als Regisseur eine solche Fehlbesetzung ist. Shutter Island gehört zu jenen Psychothrillern, die im narrativen Kern eine große Lüge sind.

Manche Regisseure blühen geradezu auf, wenn sie mit dem Publikum Katz und Maus spielen dürfen - beispielsweise Brian de Palma, Scorseses alter Weggefährte. Scorsese kann das nicht. Er ist, in seinem ästhetischen Programm und all seinen Überzeugungen, eine viel zu ehrliche Haut. Wenn er in seinen Bildern lügen soll, trägt er viel zu dick auf.

Hinterher kann er dann sagen, dass er so sein Publikum nicht wirklich betrogen habe. Wohl wahr. Das finale Rätsel von Shutter Island bleibt ungelöst: Wie ein so großer Regisseur in einen so großen Irrtum hineingeraten konnte.

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