Süddeutsche Zeitung

Zivilgesellschaft:An der Oberfläche

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Leser Schmidt lebt im Gegensatz zu Autor Jörg Häntzschel dann doch lieber in der Bundesrüpelblik Deutschland als in der seiner Ansicht nach primitiv-darwinistischen Gesellschaft der USA.

"Bundesrüpelblik Deutschland" vom 2. Februar:

Abgesehen von den richtig dargestellten historischen Entwicklungen in den USA und Deutschland ist da wohl das Wichtige und das Unwichtige durcheinandergeraten. Gängelungen gibt es auf beiden Seiten des Atlantik. Aber dass sich "der amerikanische Staat [...]die Forderungen von Schwarzen-, Frauen- und Schwulenbewegung [...]immer mehr zu eigen gemacht hat", scheint die extrem selektive Sicht Jörg Häntzschels zu offenbaren. Wie beruhigend und vorbildlich, dass man in der U-Bahn höflich ermahnt wird, sich nicht breitbeinig hinzusetzen. Ziemlich oft aber hört man aus den USA von rassistischen Wildwestpolizisten, die Schwarze "aus Versehen" umbringen, von religiösen Fanatikern, die weder Frauen noch Homosexuellen die Gleichberechtigung gönnen, von wissenschaftsfeindlichen Creationisten oder unbesonnenen Präsidentschaftsbewerbern, die den amerikanischen Reichtum durch Zäune an der mexikanischen Grenze sichern wollen.

Da möchte man doch gerne im "ruppigen, gleichgültigen und missgünstigen" Deutschland leben. Hier scheinen die Gefühlsausschläge nicht so extrem zu sein. Nachsichtige Toleranz gegenüber Tempo-30-Sündern ist weniger tödlich als gegenüber Colt- und Pumpgun-Fetischisten. Die "Fähigkeit zur Fehlerkorrektur" könnte man auch als skandalösen Zickzackkurs deuten, insbesondere bei der rachsüchtigen Todesstrafe. Überquellende Zuchthäuser, maßlose Gefängnisstrafen, Wiedereinführung der Folter in Guantanamo oder auch nur die oft gigantischen Schadenersatzforderungen sprechen nicht von einer rational zivilisierten Justiz. Hier wurde die raue Realität mit der glänzenden Oberfläche verwechselt.

Nach Ronald Reagans Neoliberalismus muss alles, was materiell existiert, privat sein. Dem für suspekt gehaltenen Staat fällt da vor allem noch die Aufgabe zu, das freie Individuum bzw. den profitorientierten Unternehmer (TTIP) vor Belästigungen zu schützen: etwa vor Fremden, Andersgläubigen, Verfechtern der Evolutionstheorie oder eines sozialen Ausgleichs. In dieser primitiv-darwinistischen Gesellschaft geht es nicht mehr darum, dem Einzelnen etwas Positives zu bieten, das er alleine nicht aufbringen kann (soziale Sicherheit, Solidarität, Infrastruktur, Bildung, Pflege, Altersvorsorge), sondern nur um Negatives: Dieser Staat hat zu beseitigen und zu verbieten, was der postmodernen Mimose als lästig erscheint, zum Beispiel breitbeiniges Sitzen in der U-Bahn. Dr. Dietrich W. Schmidt, Stuttgart

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Quelle:
SZ vom 12.02.2016
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