Wertedebatte:Sind die Kirchen überflüssig für die Gesellschaft?

Wertedebatte: SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

SZ-Zeichnung: Michael Holtschulte

Die einen meinen ja, denn Humanität sei angeboren. Andere wiederum sehen in der Glaubensgemeinschaft mehr als eine Gruppe, die gleiche Werte teilt.

"Das Verlorene" vom 11. Juni:

Auf der Suche nach Kirche

Was mit dem Verlust der kirchlichen Tradition auf dem Spiel steht, beschäftigt mich schon länger. Als evangelischer Religionslehrer in Düsseldorf habe ich die nächsten Generationen vor mir sitzen. Ich selbst sitze zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite der Traditionsabbruch, auf der anderen keine Zukunftsperspektive von Kirche.

Den Traditionsabbruch bedaure ich einerseits, andererseits begrüße ich ihn. Es geht damit los, dass die Schüler und Schülerinnen nicht mehr singen. Wie viele Musiker (etwa Mick Jagger) haben in Kirchenchören angefangen? Wo kann man sich als Jugendliche umsonst treffen? Wo, wie Heribert Prantl schreibt, über Themen diskutieren? Wo werden günstige Freizeiten angeboten, wo es nicht nur um Spaß geht? Wo trifft man die gesamte gesellschaftliche Breite? Wo wird einem vermittelt, dass man wertvoll ist und ein Neuanfang immer möglich ist? Viele dieser Funktionen haben andere Institutionen und Ersatzreligionen übernommen, aber haben sie denselben Anspruch an sich?

Andererseits ist mein Auftrag im Lehrplan, Kreuzestheologie zu vermitteln. Teilweise erkennen meine Schüler und Schülerinnen nicht einmal Maria auf einem Gemälde. (Legendär der Spruch bei einem Kollegen, der sich am Kölner Dom mit seinen Schülern treffen wollte: Wo ist der denn? Antwort: Gegenüber von McDonalds.) Selber in einer Freikirche aufgewachsen, habe ich Jahrzehnte gebraucht, um mir eine eigene, davon losgelöste Haltung zu erarbeiten. Dabei ist mir die kirchliche Tradition immer fremder geworden, obwohl ich die christliche Lebenseinstellung als zentral empfinde. Selbst in aufgeklärten Kirchen fühle ich mich in ein Museum für die Aufrechterhaltung von überkommenen Traditionen versetzt. Gern würde ich mit aufgeklärter Theologie leben, aber ich finde diese Gemeinden nicht.

In der Schule habe ich überlegt, ob ein Fach "Glück" mir näherläge, aber da fehlte mir die ernsthafte Seite des Lebens und der Umgang damit. Zur Philosophie zu wechseln, erscheint mir zu theoretisch. "Lebenseinstellung gewinnen" würde mir näherliegen, aber wo ist der Rückhalt dafür? Theologen wie Tillich haben ja schon vor langer Zeit darüber nachgedacht, aber sie haben immer nur versucht, die theologische Tradition zu übersetzen und zu retten. Wie kann eine zeitgemäße Kirche aussehen?

Martin Wedler, Düsseldorf

Selbst verantwortlich

Der Glaube an "bedingungslose und unverfügbare" Werte, den sich Prantl als Bollwerk gegen Musk und Co. zurückwünscht, hat in einer aufgeklärten Gesellschaft keinen Platz mehr. Wir müssen damit umgehen, dass Werte zuweilen unvereinbar in Konflikt stehen und von keiner Autorität vorgegeben sind. Anknüpfend an den Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde liefert der Staat seine Voraussetzungen nicht selbst - aber auch sonst niemand. Wenn wir Ziele formulieren, Werte vereinbaren oder uns Regeln geben, sind wir selbst dafür verantwortlich.

Stephan Sandhäger, Germering

Gottes Gebote

Richtig, die Gesellschaft kann die Werte, die sie als Gemeinschaft zusammenhält, selbst nicht begründen. Die Kirche aber kann es: Sie begründet ihre Werte durch und mit Gott. Es sind seine Gebote, die die Kirche (wenn sie Kirche ist) befolgt. Davon aber ist in Heribert Prantls Artikel keine Rede. Was Kirche ist, versteht er entweder nicht oder er wagt es nicht zu schreiben.

Prof. Dr. Katharina Philipowski, Potsdam

Verlogene Institution

Was will der Autor mit dem Beitrag "Das Verlorene" mitteilen? Eine pauschale Entschuldigung für eine Institution, die Missbrauch an Kindern deckt, die Homosexualität verdammt, die in einer eigenen Welt lebt und das Ganze mit sehr viel Geld von Kirchensteuerzahlern finanziert? Es gibt für Mitarbeitende in der Kirche keinen Tarifvertrag, kein Streikrecht. Bei einem kirchlichen Träger darf man nur arbeiten, wenn man einer Glaubensgemeinschaft angehört, die die Kirche definiert.

Die Kirche als Wertegemeinschaft außerhalb des Staates? Auf Fragen, die der Staat nicht geben kann? Nun, Prantl hat recht. Die Bischöfe sind nicht die Kirche - auch der Papst nicht. Die Kirche sind die Mitglieder, da zolle ich Respekt. Ich habe 30 Jahre lang für die Kirche gearbeitet, jetzt bin ich ausgetreten. Ich kann mit dieser verlogenen und zweifelhaft moralischen Institution nicht mehr gemein sein.

Christoph Rabas, Dießen am Ammersee

Mehr als eine Wertegemeinschaft

Unsere Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Solidarität, Versöhnung, die Heribert Prantl erwähnt, sind Ausdruck eines übergeordneten Glaubens, der sich auf Basis des Christentums entwickelt hat. Werte stehen also nicht für sich allein, sondern sind mit dem Inhalt des jeweiligen Glaubens verbunden. Man kann natürlich die Frage stellen, ob man die Kirchen noch braucht, wenn man schon die Werte von ihnen übernommen hat.

Schuld, dass eine solche Frage überhaupt aufkommt, sind die Kirchen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Bei der evangelischen Kirche ist der Glaubensinhalt unverbindlich und beliebig geworden, dass es für Außenstehende kaum erkennbar ist, wofür sie eigentlich steht. Die katholische Kirche ist in ihrer Dreiheit von Bibel, Lehramt und Tradition so gefangen, dass sie den Eindruck erweckt, nur noch an sich selbst zu glauben. So können Austritte kaum überraschen. Die Aufdeckung von Missbrauchsfällen sowie deren Vertuschung hat diesen Trend verstärkt. Reste des ursprünglich lebendigen Glaubens sind noch in den Kirchen zu finden, aber das allgemeine Bild ist so trostlos, dass immer weniger dort danach suchen.

Wenn die Werte sich von ihrem Glaubenshintergrund lösen, verlieren sie ihre Kraft und verkommen zu Schlagwörtern. Der Glaube wird abstrakt. Es braucht Menschen, die von den Werten überzeugt sind und sie leben. So sind die Kirchen entstanden: weil der Glaube einen Inhalt hatte - das lebens- und weltverändernde Evangelium von Jesus Christus. "Etwas, das bedingungslos und unverfügbar ist", ist kein Inhalt, mit dem der Mensch leicht etwas anfangen kann. Kirche ist eben mehr als eine Wertegemeinschaft. Und sie soll mehr sein als ein "Gehäuse für Werte". Die Kirchen müssen sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe besinnen, wollen sie für die Zukunft noch Bedeutung haben.

Robert Booker, Karlsfeld

Andere sorgen für Diskurs

"Ach, Prantl", ist man geneigt zu seufzen, "echt jetzt?" Warum ist es nötig, dass die Kirchen journalistische Unterstützung erhalten? Die Kirchen, denen es an ausgeprägtem Lobbyismus in der für sie nicht ganz einfachen Gegenwart gewiss nicht mangelt. Beispiel: historische Staatsleistungen mit ihren zahlreichen kirchentreuen Fürsprechern aus der Politik.

Nein, Herr Prantl, unsere Gesellschaft braucht die Kirchen nicht. Wenn auch einige Intellektuelle im gesellschaftlichen Diskurs durch Selbstbeschäftigung zeitweilig ausfallen (Beispiel Pen-Club), so gibt es andere Institutionen, die zu Klarheit und anregendem Diskurs beitragen, zum Beispiel die verschiedenen Organisationen der Humanisten. Und die katholischen und evangelischen Kindergärten und Schulen, die ohnehin praktisch staatlich finanziert sind, könnten wieder in staatlicher Hand und mit Ethik- statt Religionsunterricht Werte vermitteln, die dem säkularen Staat die notwendige Rückenstärkung geben.

Christian Casutt, Mainz

Humanität ist angeboren

Versteht sich Kirche weiter als der Ort für Werte? Solange Kirche sich nicht von diesem Alleinvertretungsanspruch trennt, untergräbt sie ihre Stellung in der Gesellschaft. Kirche kann ein Ort sein, an dem Werte gelebt, weiterentwickelt, gelehrt werden. So könnten die Kirchen die "Unterrichtung im Glauben" für unsere Kinder in ihre eigenen Räume holen - und so in den Schulen Platz machen für Unterricht über Religion, Unterricht in Ethik und sozialem Verhalten.

Entschieden widerspreche ich dem letzten Absatz. Humanität - oder allgemeiner: soziale Werte, soziales Verhalten - ist eine fundamentale Kraft für alle in Zusammenleben organisierten Lebensformen. Humanität ist angeboren.

Georg Walenciak, Unkel

Prägendes Element

Ich stimme Heribert Prantl zu, dass die Kirche "wir" sind, das heißt jeder Einzelne, der nach christlichem Glauben lebt. Ich (katholisch und Klosterschülerin) war über 30 Jahre lang kein Mitglied der Kirche, denn ich konnte die für mich allzu rigorosen Anforderungen, was Glauben und Verhalten betrifft, nicht erfüllen. Nach Jahren in Berlin, wo ich oft (freiwillig) Kirchen besuchte, trat ich wieder ein. In einer Welt ganz ohne transzendentalen Bezug und ohne das Wissen um unsere kulturelle Verwurzelung zu leben, empfand ich als unbefriedigend. So bin ich vor etwa zehn Jahren wieder eingetreten und stehe fest zu meiner Kirche, obwohl ich deshalb Anfeindungen und Unverständnis erleben musste.

Es scheint das Bewusstsein dafür verloren gegangen zu sein, dass die christlichen Werte (und daraus abgeleitet auch die Ideale der Aufklärung) das prägende Element für unser Zusammenleben und unsere Kultur sind. Furchtbar sind die Verfehlungen, die Mitgliedern und Repräsentanten der Kirchen anhaften. Helfen wir überall dort, wo menschliches Versagen die Oberhand gewinnt, und unterstützen wir auf diese Weise unsere Kirche!

Renate von Törne, Hof/Saale

Eine Frage der Wertschätzung

Als Christ kann ich Heribert Prantl verstehen. Doch sehe ich die Tragödie anders. Stimmt der "Böckenförde-Satz über die Seelsorge" wirklich? Waren die Kirchen zu Zeiten Böckenfördes schon in der freiheitlich säkularen Demokratie angekommen? Als Katholik hätte ich Bedenken, meiner Konfession das zu bescheinigen. Selbst wenn: Lässt sich die Bergpredigt so instrumentalisieren? Und ist es nicht gerade umgekehrt: Sichert nicht der demokratische Staat die Freiheit der Seelsorge vor Theokratien? Die jüngsten Äußerungen des Papstes zum synodalen Weg sind ein aktueller, aber harmloser Beleg dafür.

Die Horkheimer-Warnung "vor dem Aufspreizen" unseres "eigenen Wissens als neuer Religion" trifft zu. Die Ehrfurcht vor dem Unverfügbaren ist verloren gegangen. Die Gott-hat-uns-alle-lieb-Theologie macht es nicht besser. Die Botschaft ist spröder und beunruhigender. Eine Gesellschaft, die dafür keine Ohren mehr hat, ist kaum zu erreichen. Insofern stehen die Kirchen auf verlorenem Posten. Man hat sicher vieles falsch gemacht, Sünde auf sich geladen, aber man kann das Kirchenvolk nicht durch Buße und synodale Anstrengungen wieder herbeibeten. Auch das Predigen von der "Bewahrung der Schöpfung" ist ein Zeichen der Hilflosigkeit. Eine Konsumgesellschaft wird so nicht aufgerüttelt. Sie hat die Sensoren für das Erhabene konsequent gegen profane Apps getauscht. Wir müssen begreifen, nur verletzlicher Teil einer lebendigen Gesamtheit zu sein und nicht Hauptakteure auf einem Ressourcenstern. Diesen demütigen Realismus nennt die Philosophin Corine Pelluchon "considération" (Wertschätzung).

Vielleicht wäre Klartext keine schlechte Idee für modernes Predigen. Die Zahl der Gläubigen würde wohl nicht zunehmen, aber die Botschaften der Bibel würden wiederauferstehen.

Hermann Pütter, Neustadt

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