Wahlrecht:Weniger Abgeordnete, wie?

Bei der letzten Bundestagswahl hat es so viele Überhangmandate gegeben, dass in Berlin nun mehr als 700 Abgeordnete die Wähler repräsentieren. Zu viel, meinen auch die SZ-Leser und machen einige Vorschläge zur Reform des Wahlrechts.

Foto für die Forumseite vom 14.3.2019

Immer mehr Stühle im Bundestag: Umbau des Plenarsaals nach der letzten Wahl im Herbst 2017.

(Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Zu "Vernunft bitte!" und "Druck unter der Kuppel" vom 9./10. März:

Überhangmandate reduzieren

In seinem Kommentar "Vernunft bitte!" mahnt Stefan Braun die Reform des Wahlrechts und entsprechende Kompromissbereitschaft der Parteien an. Dem ist grundsätzlich nicht zu widersprechen, denn das Wahlrecht darf nicht einzelnen Parteiinteressen dienen. Das grundsätzliche Problem liegt bei den Überhangmandaten, die entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach Zweitstimmen in dem jeweiligen Bundesland zustehen. Die CDU/CSU erzielte bei der Bundestagswahl 2017 insgesamt 43 Überhangmandate, die entsprechend auszugleichen waren. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die CDU/CSU auch weiterhin von diesem Effekt profitieren wird. Ursache ist, dass diese Partei gegenwärtig stärker ist als die anderen Parteien, Direktmandate aber mit Ergebnissen von deutlich unter 50 Prozent bis hin zu unter 30 Prozent erringen kann, auch wenn andere politische Lager im Wahlkreis eigentlich eine Mehrheit haben.

Die Zahl der Wahlkreise zu verkleinern könnte den Effekt zwar verringern, vergrößert die Wahlkreise jedoch und sorgt für weniger Bürgernähe. Ein kompletter oder teilweiser Verzicht auf Ausgleich der Überhangmandate (Lammert-Modell) würde in der gegenwärtigen Lage einseitig die CDU/CSU bevorteilen. Besser wäre, an der Wurzel anzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Zahl der Überhangmandate generell reduziert wird. Dies wäre durch ein Präferenzwahl- beziehungsweise Stimmentransfersystem zu erreichen, bei dem die Wähler und Wählerinnen bei der Erststimme mehrere Kandidaten in einer bestimmten Reihenfolge wählen können. Wenn bei der Auszählung ein höher präferierter Kandidat ausfällt, wird die Stimme auf den nächstplatzierten Kandidaten übertragen. Am Ende kämen somit die politischen Lager stärker zum Tragen, und die Zahl der Überhangmandate würde reduziert. Diese Lösung mag zwar den Wahlhelfern etwas mehr Arbeit bereiten, weil sie aber zu einer besseren Legitimation des Ergebnisses führen würde, sollte es die Mühe wert sein.

Udo Ehrich, Bielefeld

Direktmandat ab 30 Prozent

Der Bericht zu der Wahlrechtsreform ist deprimierend. Aus purem Egoismus sind die Bundestagsabgeordneten nicht in der Lage, ein unserer Verfassung gemäßes Wahlrechtsgesetz zu verabschieden! Gilt nun unsere Verfassung oder gilt sie nur eingeschränkt? Hätten wir mutige Verfassungsrichter, so hätten diese längst schon den Missstand durch ein eigenes Gesetz beseitigt, wie es früher einmal angekündigt wurde. Das Übel ist die zu große Anzahl der Wahlkreise. Eine Möglichkeit wäre, dass nur der Kandidat oder die Kandidatin das Mandat erhält, wenn er/sie mehr als 30 Prozent der abgegebenen Stimmen im Wahlkreis erhält. Wenn man bedenkt: Bei einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent sind das nur 15 Prozent der Wahlberechtigten. So hätten einige Wahlkreise keine(n) direkt gewählte(n) Kandidaten/Kandidatin. Das ist aber kein Unglück, da ja die Bundestagsabgeordneten keine Lobbyisten eines Wahlkreises sind, sondern der Allgemeinheit verpflichtet.

Josef Hanauer, Karlsruhe

Ihr Thema

Europas Zukunft - in welcher Heimat wollen wir leben? Über diese Frage wollen wir am 13. April mit Ihnen im Haus der Berge in Berchtesgaden diskutieren. Im Rahmen des Projekts Werkstatt Demokratie lädt die Süddeutsche Zeitung von 13 bis 18 Uhr in das Informationszentrum des Nationalparks Berchtesgaden zur Diskussion ein. Für das Thema der Werkstatt haben sich mehr als 3000 Leser in einer Online-Abstimmung entschieden. Derzeit recherchiert die Redaktion zu eben dieser Fragestellung, um dann mit Ihnen zu debattieren - online und in Workshops vor Ort in Berchtesgaden. Die Veranstaltung ist kostenlos, Anmeldung bitte unter sz.de/werkstattdemokratie, wo Sie alles Wichtige und die SZ-Artikel zum Thema finden. Sie können mit uns natürlich auch im Netz zu Europa diskutieren - in unserer Themenwoche vom 8. bis zum 12. April. sebi

Stimmen abgeben an andere

Durch eine Ausweitung des Themenbereichs der Reform bestünde die Möglichkeit, die Politik für den Wähler wieder interessanter zu machen. Denn dieser ist frustriert: Keine neuen Visionen, nur Koalitionsgerangel mit anschließender Postenvergabe an schon bekannte Parteifunktionäre, die in der Regel dann auch noch fachfremd sind! Wie soll sich denn da in der Politik etwas ändern?! Dazu wären neue Ideen und Programme nötig - also neue Parteien. Parteien mit neuen Ideen gibt es einige, und so manche von ihnen hätten auch großen Zulauf - gäbe es da nicht die Fünf-Prozent-Klausel! Oft aus Furcht, dass die Stimme für eine neue Partei verloren ginge, wählt man erst gar nicht oder gibt sie lieber einer etablierten anderen Partei. Deshalb bestimmen stets die wenigen großen Parteien unsere Politik und nicht der "Wille des Volkes", der, da er vielschichtig ist - wenn überhaupt - nur über kleinere Parteien artikuliert werden kann.

Eine Möglichkeit, sich aus dieser Sackgasse zu befreien, wäre eine Modifikation des derzeitigen Wahlrechtsverfahrens: Parteien wird eingeräumt, falls sie unter die Fünf-Prozent-Hürde fallen, ihre Stimmen einer anderen Partei zuzuordnen.

Dieses Verfahren würde naturgemäß die Macht der großen Parteien schwächen - was in einer echten Demokratie ja zu begrüßen wäre! Naturgemäß ist das aber von den Regierenden nicht gewollt, und so wurde auch mein diesbezüglicher Petitionsantrag abgelehnt. Es wäre aber gut, diese Modifikation einzuführen, um dadurch die Möglichkeit zu schaffen, bei der nächsten Bundestagswahl unsere festgefahrene Politik wieder in Schwung zu bringen!

Werner Woitsch, Neubiberg

Stichwahl bei der Erststimme

Die Zahl der Direktmandate der großen Parteien könnte reduziert werden, wenn für den Gewinn des Direktmandats eine absolute Mehrheit notwendig wäre. Das erfordert zwar eine Stichwahl; es verhindert aber auch, dass jemand mit nicht mal 30 Prozent in den Bundestag einrückt. 2017 wurden von den direkt gewählten Abgeordneten 190 mit 40 Prozent und weniger gewählt, davon etwa 60 mit weniger als 33 Prozent. Lediglich 13 Abgeordnete unter ihnen hatten 50 Prozent und mehr. Hier ist noch mehr Demokratie möglich.

Dieter Wittmann, Freising

Proporz zur Zweitstimme

Ohne den Parteien-Egoismus wäre eine Aufblähung des Bundestages leicht zu vermeiden. Man müsste nur die Regeln des Erststimmen-Mandats dahingehend ändern, dass nur so viele Erststimmensieger in den Bundestag einziehen, wie es der Proportionalität der Zweitstimmenergebnisse entspricht. Dazu sollten zunächst diejenigen Erststimmensieger in den Bundestag einrücken, die die höchsten prozentualen Wahlkreisergebnisse erzielt haben. Die zunächst nicht berücksichtigten Erststimmensieger bleiben auf einer Reserveliste für Nachrücker für ausscheidende Abgeordnete. 2017 wären 46 Erststimmensieger auf einer solchen Warteliste gelandet, von denen mittlerweile einige bereits nachgerückt wären. Dies ist das einzige Modell, das die demokratisch notwendige Proportionalität ohne Überhangmandate wahrt!

Dr. Gerd Eisenbeiß, Bonn

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