Wahlrecht:Mangelnde Reformbereitschaft schadet der  Demokratie

Viele Leserinnen und Leser sind verärgert, dass auch der vorerst letzte Versuch gescheitert ist, die Abgeordnetenzahl vor der Bundestagswahl 2021 zu reduzieren.

Wahlrecht: Ein Sitz außer der Reihe: Der Streit darüber, wie die Abgeordnetenzahl im Bundestag verringert werden kann, dauert an.

Ein Sitz außer der Reihe: Der Streit darüber, wie die Abgeordnetenzahl im Bundestag verringert werden kann, dauert an.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Zu "Auf Wachstumskurs", "Die Verweigerer" vom 4./5. Juli sowie zu "Langwierige Schrumpfkur", 2. Juli und "Wahlrechtsreform spaltet die Union" vom 29. Juni:

Vorbildfunktion gefragt

Das Scheitern der Wahlrechtsreform macht wieder einmal deutlich, dass es Menschen im Allgemeinen und Volksvertretern im Besonderen schwer fällt, Reformen, die auf das eigene Leben Einfluss nehmen, auf den Weg zu bringen. Man sägt nicht am Ast, auf dem man gerade selber sitzt. Die vom Volk gewählten Vertreter tragen aber eine hohe gesellschaftliche Verantwortung und sollten sich ihres Vorbildcharakters bewusst sein.

Über Reformen muss sachlich gestritten und debattiert werden. Dies muss dann aber auch zu Lösungen und Veränderungen führen und nicht in der Diskussion stecken bleiben, wenn man vielleicht selbst davon betroffen sein könnte. Gefühlt hängen einige Ideen in der politischen Warteschleife, zum Beispiel die notwendigen Nord-Süd-Stromtrassen, die am eigenen Dorf vorbeiziehen könnten, das Atom-Endlager in der Nachbarschaft, die Einführung eines allgemeinen Dienstes als Reform der Wehrpflicht, die Bürgerversicherung statt der Aufteilung in private und gesetzliche Krankenversicherung, das lebensrettende Tempolimit auf Autobahnen und noch vieles mehr. Reformen bedeuten Veränderung. Dazu müssen alle Bürger bereit sein. Auch Politiker sind Bürger.

Andreas Stachel, Maikammer

Das Volk ernst nehmen

Was soll ich von Politikern, die an führender Stelle stehen, halten, die Tatsachen verdrehen? Der Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, behauptete doch im Ernst, der Kompromissvorschlag von Ralph Brinkhaus sei "verfassungswidrig". Das Grundgesetz im Artikel 38 benennt nur die Grundprinzipien eines Wahlrechts - unmittelbar, frei, gleich, usw., über das Wahlsystem steht nichts im Grundgesetz. Das war Aufgabe des Gesetzgebers, der sich für ein "personalisiertes Verhältniswahlsystem" entschied. Was besagt das? Primär ist das Verhältniswahlrecht, sekundär - als adjektivische Beifügung - die Personalisierung.

Da Politiker oft die Konsequenz scheuen, haben sie nun im Wahlakt die Gewichtung umgedreht. Die erste Stimme für den Wahlkreiskandidaten, die zweite Stimme für die Partei, also für die Listenwahl. Dadurch ist aber der gewählte Wahlkreiskandidat nicht automatisch gleichwertig zur Parteienwahl, er ist Ergänzung! Er soll den Bundestag vor Ort vertreten. Wenn es also um die Besetzung des Bundestages geht, müssten die Abgeordneten der Liste Vorrang haben vor den gewählten Wahlkreiskandidaten. Es ist Sache der Partei, wie sie die Sitze, die sie durch das Verhältniswahlrecht errungen haben, untereinander verteilen. Rund 600 Abgeordnete sind für Deutschland genug. Der Bundestag wird durch 750 Abgeordnete, wie nun zuletzt vorgeschlagen, nicht effizienter, aber wesentlich teurer. Die Expansion des Bundestages ist ohnehin ein Luxus, der angesichts der Corona-Krise und deren wirtschaftlichen Folgen unverantwortlich ist.

Die Abgeordneten sind für das Volk da, nicht umgekehrt. Das sollte eine Volkspartei, wie es die CSU sein will, ernst nehmen.

Willibald Herrmann, Waltenhofen

Egoismus statt Gemeinwohl

Der Bericht aus dem Bundestag ist deprimierend. Aus purem Egoismus sind die großen Parteien nicht willens, ein unserer Verfassung gemäßes Wahlgesetz zu verabschieden. Gilt nun unsere Verfassung allgemein oder nur für die "kleinen Leute", nicht aber für die machtbesessenen Bundestagsabgeordneten? Hätten wir mutige Verfassungsrichter, so hätten sie schon längst diesen Missstand abgeschafft, der so viel Geld kostet und unserer Demokratie sehr schadet. Kein Wunder, dass viele Bürger nicht mehr zur Wahl gehen. Wer will auch diese Egoisten wählen, die vor allem an sich und ihre Freunde denken! Dem allgemeinen Wohl verpflichtet? Eine Phrase.

Josef Hanauer, Karlsruhe

Sitze nach Wahlbeteiligung

Wie wäre es denn, wenn man die Anzahl der Sitze im Bundestag einfach mit der Wahlbeteiligung koppeln würde? Bisher waren für den Bundestag 598 Sitze vorgesehen. 299 Sitze über die Parteienliste plus 299 Direktmandate. Mein Vorschlag liefe darauf hinaus, dass bei einer Wahlbeteiligung von beispielsweise 75 Prozent auch nur 75 Prozent der Sitze für die Parteien verteilt würden. Statt 299 also nur 225 Sitze. Dazu kämen dann die Sitze für die Direktkandidaten plus Überhangmandate (225 Sitze + 299 Sitze + Überhang). Ergo: 524 Sitze plus Überhangmandate. Das wäre doch eine deutliche, gleichsam aber auch gerechte Verringerung der Sitze.

Hans-Georg Gohlisch, Wuppertal

Abschreckende Beispiele

Bei der letzten US-Präsidentschaftswahl stimmten 66 Millionen Wähler für Hillary Clinton und 63 Millionen Wähler für Donald Trump. Dass dennoch Donald Trump in das Weiße Haus einziehen konnte, "verdankt" die Welt dem amerikanischen Mehrheitswahlrecht auf der Ebene der Bundesstaaten. Bei der britischen Parlamentswahl im Dezember 2019 wählte eine Mehrheit der Briten Parteien, die sich für ein zweites Brexit-Referendum einsetzten. Dass dennoch Boris Johnson und seine Konservative Partei in Westminster mit einer komfortablen absoluten Mehrheit regieren und den Brexit vorantreiben können, "verdanken" die Briten ihrem Mehrheitswahlrecht. In beiden Wahlen hat das Mehrheitswahlrecht dazu geführt, dass der Wille der Mehrheit der Wähler ins Gegenteil verkehrt wurde.

Beide Beispiele zeigen auf drastische Weise, zu welchen Verwerfungen das Mehrheitswahlrecht führen kann. Um so wichtiger ist es daher, dass die Reform des Bundestagswahlrechts nicht dazu genutzt wird, das bestehende Verhältniswahlrecht auszuhöhlen und durch ein Mehrheitswahlrecht zu ersetzen. Bei der Wahlrechtsreform ist daher sicherzustellen, dass jede abgegebene Stimme zählt und dass direkt gewählte Stimmkreisabgeordnete keine Besserstellung und die auf sie entfallenden Erststimmen keine Höhergewichtung gegenüber den anderen Stimmen erfahren. Kurzum: Es ist sicherzustellen, dass die Zusammensetzung des Bundestages auch künftig von der Anzahl der Zweitstimmen bestimmt wird.

Daher: Soll unter Beibehaltung des Verhältniswahlrechts der Bundestag auf seine Sollgröße von 598 Abgeordneten zurückgeführt werden, so führt an einer Reduzierung der Anzahl der Stimmkreise von derzeit 299 auf künftig circa 250 Stimmkreise kein Weg vorbei. Die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD konnten jedoch auch im dritten Regierungsjahr keine Einigung über das Ausmaß der Reduzierung erzielen. Die Wahlrechtsreform in der aktuellen Legislaturperiode ist damit gescheitert.

Roland Sommer, Diedorf

Wählerboykott der Erststimme

Angesichts der höchst ärgerlichen und frustrierenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform schlage ich vor, die Wählerinnen und Wähler das Problem selber lösen zu lassen. Mein Vorschlag ist: Wir - möglichst alle - wählen nur mit der Zweitstimme, das heißt, wir vergeben keine Direktmandate mit der Erststimme. Dann würde sich doch das Problem der Überhang- und Ausgleichsmandate erledigen, oder?

Wenn alle Wählerinnen und Wähler, die sich über den Irrsinn des ständig wachsenden Bundestags und den Egoismus der betreffenden Politiker aufregen, bei diesem begrenzten Boykott mitmachen, könnten wir etwas Gutes erreichen.

Inge Stevermann, Bad Nauheim

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