Wahlkampf:Durchwachsenes Zeugnis

Manche hadern mit der Corona-Politik der Regierung, andere mit dem Selbstverständnis der SPD, und einige setzen sich mit der Grundsatzkritik an den Grünen auseinander. Wie pragmatisch muss die Partei werden?

Erster Schlagabtausch von Baerbock, Laschet und Scholz

Streiten ums Kanzleramt: Annalena Baerbock (Die Grünen), Armin Laschet (CDU, mittig zugeschaltet per Video) und Olaf Scholz (SPD).

(Foto: dpa)

Zu "Von Stimmen und Stimmungen" und "Schily II", beide vom 5./6. Juni sowie zu "Alles im Fluss" vom 22./23./24. Mai:

Vertrauensverlust offensichtlich

Der Artikel "Stimmen und Stimmungen" hat es tatsächlich auf den Punkt gebracht. Der Vertrauensverlust in einen Großteil unserer Politiker ist offensichtlich. Während am Anfang der Pandemie noch markige Worte und Verbote gut ankamen, wurde zum nahenden Ende der Krise mangelnde Kreativität und überhaupt der mangelnde Wille zu flexiblen Lösungen überdeutlich. Da wurde schnell auch ein Markus Söder entzaubert, dem außer Verboten auch nichts mehr eingefallen ist und der ansonsten für Misserfolge meiner Wahrnehmung nach immer prinzipiell andere verantwortlich gemacht hat.

Brillant war der Satz "Was man von ,Handwerker' Joe Biden lernen kann? In der Krise am besten Taten sprechen lassen." Genauso ist es, wir brauchen Macher und nicht so viel Huschiwuschi. Ein Politiker solchen Formats ist bei uns aber meines Erachtens leider nicht in Sicht.

Christian Meinhardt, Ottobrunn

Fairer Umgang mit Fehlern

Detlef Esslinger ist in "Von Stimmen und Stimmungen" der Meinung, die verantwortlichen Politiker hätten in der Pandemie versagt und müssten nun verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen. Er fragt: "Wem darf man als Wähler vertrauen?" Seine Antwort: Politiker sollen redlich und kompetent seien. Und diese Eigenschaften hat Herr Esslinger beim Kampf von Parlament und Regierung gegen die Ausbreitung des Virus vermisst. Seine Vorwürfe lauten, die Ministerpräsidenten seien zeitweilig zu leichtfertig gewesen, der Gesundheitsminister habe Testbetreiber zugelassen, ohne hinreichende Vorkehrungen gegen Betrüger getroffen zu haben. Und die Kommunikation sei widersprüchlich gewesen.

Jeder weiß um die grundsätzliche Schwierigkeit, bei unsicherer Sachlage und unter Zeitdruck Entscheidungen treffen zu müssen. Im Nachhinein ist man immer schlauer - so auch Esslinger. Er zweifelt an der Redlichkeit und Kompetenz der Politiker, die sich nach Beratung durch einschlägige Experten nach bestem Wissen und Gewissen bemüht haben, die Bevölkerung vor einer Katastrophe zu bewahren. Die Fehler, die im Nachhinein als solche erkennbar sind, sollten meines Erachtens nicht dafür herhalten, einen angeblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zu begründen.

Dr. Hans-Joachim Schemel, München

Warum die SPD Wähler verliert

Der Kanzlerkandidat Olaf Scholz versprach auf dem Parteitag der SPD am 9.5.2021, dass er innerhalb seines ersten Regierungsjahres den staatlichen Mindestlohn auf 12 Euro anheben werde. Die Forderung nach einem Mindestlohn von 12 Euro hatte er bereits im Herbst 2017 als Hamburger Bürgermeister erhoben. Damals begründete er die Anhebung des Mindestlohnes mit dem Argument, dass niemand der Vollzeit arbeite, im Alter auf öffentliche Hilfe angewiesen sein soll. Diesen Hinweis ließ er diesmal richtigerweise weg.

Die Steigerung des Mindestlohns von 9,50 Euro (2021) auf zwölf Euro würde gegenwärtig das monatliche Nettoeinkommen nach meinen Berechnungen von 1202 Euro auf 1449 Euro für eine alleinstehende Person erhöhen, Altersarmut jedoch zementieren. Selbst bei 45 Jahren ununterbrochener und voller Beschäftigung kommt man aufgrund des derzeitigen Rentenrechts auf eine Monatsrente von 896,91 Euro brutto beziehungsweise 798,70 Euro netto (West). Und dies gilt auch nur dann, wenn der Mindestlohn entsprechend der Entwicklung der Arbeitseinkommen jährlich angehoben wird.

Neben der Nettorente von 798,70 Euro wird ein Grundrentenzuschlag von monatlich ca. 200 Euro fällig, was insgesamt den Betrag von rund 1000 Euro im Monat ausmacht. Bereits jetzt können Armutsrentner in Hamburg Grundsicherung im Alter in Höhe von monatlich 1100 Euro beanspruchen (Bedarf). Deshalb werden Mindestlohnbezieher selbst nach 45 Jahren voller Beschäftigung weiterhin auf öffentliche Hilfe angewiesen sein. Und den Anspruch auf den Grundsicherungsbedarf haben alle Bürger, unabhängig davon, ob sie Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben, oder auch nicht. Damit wird nebenbei der gesetzlichen Rentenversicherung die legitime Basis entzogen.

Auf einen weiteren Skandal hat Olaf Scholz auf dem Parteitag ungewollt hingewiesen, indem er betonte, dass die Erhöhung des Mindestlohns zehn Millionen Arbeitnehmern zugutekäme. Mit anderen Worten: Nahezu jeder vierte Arbeitnehmer verdient gegenwärtig weniger als den Mindestlohn von 12 Euro die Stunde. Alle diese Menschen werden selbst nach 45 Jahren Vollbeschäftigung auf zusätzliche Grundsicherung im Alter angewiesen sein.

Es überrascht schon, dass die SPD den massiven Verlust ihre Wählerschaft allein kommunikativ zu erklären versucht. Seit der rot-grünen Koalition (1998 - 2005) boomen Minijobs, Leiharbeit, Werkverträge oder befristete Arbeitsverhältnisse mit entsprechenden Auswirkungen auf das Lohnniveau und die Rentenhöhe. Genau das bekommen die Bürger früher oder später zu spüren.

Gerhard Brauer, Hamburg

Jetzt ökologisch handeln

Bei der Suche nach einem grünen Innenminister in "Schily II" scheint es, ist Herr Prantl der Faszination seines eigenen Sprachbildes erlegen: Ballast abwerfen! In unglaubliche Höhe steigen! Doch braucht der grüne Ballon nicht die Höhe, um sein Ziel zu erreichen, einen wirkungsvollen Klimaschutz, dessen Dringlichkeit kein denkender Mensch verleugnen kann?

Schon eine weltweite Wasserknappheit würde zu gnadenlosem Hauen und Stechen unter den Menschen und Völkern führen. Jetzt Ballast abwerfen, Ziel erreichen, das heißt wieder landen, Ballast wieder aufnehmen und zum nächsten Ziel aufbrechen. Ist das nicht das Gebot der Stunde? Oder, um es mit Wolf Biermann zu sagen: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu." Jetzt bedarf es umgehend der Stärkung ökologischen Handelns, Frauen scheint das eher zu bewegen, auch um Pazifismus und Bürgerrechte zu bewahren.

Christel Ludwig, Winnenden

Reine Lehre hilft bei Wahlen nicht

Heribert Prantls Einschätzung zur Partei der Grünen ist mir nicht erklärlich. Eine Partei wie die Grünen, die jetzt erklärtermaßen nach der Macht strebt und Verantwortung im Bund übernehmen will, kann doch nicht in einem identitätspolitisch verhafteten Wolkenkuckucksheim gefangen bleiben.

Macht zu übernehmen, heißt immer auch, Kompromisse zu schließen. Entwicklung heißt auch, einmal eingenommene Positionen zu überprüfen. Verrat wird dann schnell gerufen. Robert Habeck darf über die Ukraine und ihre Bedrängnis durch Putin nicht nachdenken, ohne dass er als Friedensgegner denunziert wird.

Die Bundestagsfraktion der Grünen darf den insgesamt vernünftigen Kurs der Bundesregierung in Sachen Corona-Pandemie nicht unterstützen, ohne dass ihr demokratiefeindliches Verhalten vorgeworfen wird, auch wenn die Alternative womöglich aus einem Desaster wie in Indien oder den Vereinigten Staaten von Amerika bestünde. Und auch dort, wo Herr Prantl die Grünen im Plus wähnt, in der Umweltpolitik, rüsten sich bereits die Ersten, den Grünen mangelnde Prinzipientreue vorzuwerfen.

Mit der reinen Lehre gewinnt man vielleicht Leser, aber nicht Wahlen. Und nur durch diese Wahlen ist in unserem Land ein Neuanfang möglich, der sich der wahren Herausforderung der Klimakrise annimmt.

Michael Thielemeyer, Hude

Hinweis

Leserbriefe sind in keinem Fall Meinungsäußerungen der Redaktion, sie dürfen gekürzt und in allen Ausgaben und Kanälen der Süddeutschen Zeitung, gedruckt wie digital, veröffentlicht werden, stets unter Angabe von Vor- und Nachname und dem Wohnort.

Schreiben Sie Ihre Beiträge unter Bezugnahme auf die jeweiligen SZ-Artikel an forum@sz.de. Zu Artikeln, die im Lokal- und Bayernteil der SZ erschienen sind, senden Sie Ihre Meinung gerne direkt an forum-region@sz.de.

Bitte geben Sie für Rückfragen Ihre Adresse und Telefonnummer an. Postalisch erreichen Sie uns unter Süddeutsche Zeitung, Forum & Leserdialog, Hultschiner Str. 8, 81677 München, per Fax unter 089/2183-8530.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: