Wahl in Großbritannien:Entscheidung aus Ermüdung

Viele Engländer hatten die Brexit-Debatte satt, kommentieren Leser. Sie kommen zurück, meint einer.

"Der Triumphator", "So hat das Vereinigte Königreich gewählt", 14./15. Dezember:

Auch Remainers wählten Tories

Mit der normannischen Invasion 1066 hat die britische Klassengesellschaft ihren Anfang genommen und fast 1000 Jahre Bestand gehabt. Jetzt wird dieses System auch nicht aufgrund einer Unterhauswahl grundlegend verändert werden. Die Engländer hatten die Wahl zwischen zwei extremen Persönlichkeiten, einem cleveren Politclown aus der Oberklasse und einem verbohrten Apparatschik aus der Unterklasse. Der eine hatte eine klare Botschaft: "Get Brexit done!", der andere, dem Antisemitismus und Marxismus nachgesagt wurden, und der nicht einmal für viele Labour-Anhänger wählbar war, konnte sich zu keiner klaren Botschaft durchringen und verfolgte eine sozialistische Agenda. Man fragt sich überhaupt, was die Mitglieder der Labour-Partei geritten haben könnte, Corbyn zur Teilnahme an der Wahl am 12. Dezember zu ermuntern. Wollten sie ihn nach einer vorhersehbaren, verheerenden Niederlage endgültig in die Wüste schicken?

Die verheerende Niederlage hat er bekommen, aber in die Wüste ist er nicht gegangen, sondern will den jetzt beginnenden Reflexionsprozess überwachen. Zu Johnsons Erdrutschsieg haben nicht nur persönlichkeitsbedingte Einstellungen und politische Gründe beigetragen, sondern auch der gesamte Habitus seines Gegenspielers, der ihn zu einem ungeeigneten Kandidaten für das Amt des Premierministers macht. Zudem hat sich Corbyn in seiner Starrköpfigkeit und Arroganz geweigert, mit anderen Oppositionsparteien Wahlabsprachen einzugehen, wodurch das Anti-Brexit-Lager gespalten wurde. Hinzu kam, dass die überwiegend konservative, EU-feindliche Presse möglicherweise aus taktischen Gründen ein knappes Rennen voraussagte und so die konservative Leserschaft mobilisierte. Schließlich konnte Johnson mit seinem Slogan zahlreiche brexitmüde Briten für sich gewinnen, die ursprünglich für eine Verbleib in der EU gestimmt hatten. Unter diesen Umständen kann man es den Briten nicht verdenken, dass sie sich gegen den langweiligen Apparatschik entschieden haben und für den lustigen Bonvivant, dem keine Lüge zu schade ist. Johnsons Erdrutschsieg hat etwas mit der einmaligen menschlichen und politischen Situation zu tun und wird das britische Klassen- und Machtsystem nicht grundlegend verändern. Ironischerweise hätte wohl eine Mehrheit der Briten in einem zweiten Referendum für einen Verbleib in der EU gestimmt (BMG Research).

Jürgen Einhoff, Hildesheim

Corbyn zu schwach für Johnson

Seit der Altlinke Jeremy Corbyn vor vier Jahren überraschend Parteivorsitzer der Labour Party wurde, haben die zuvor dominierenden, mehrheitlich Mitte-rechts tendierenden Mitglieder der Unterhausfraktion nichts unversucht gelassen, die neue Parteiführung und die linke Mehrheit der Labour Party über die gut geölte Medienschiene zu diskreditieren oder mit Parteispaltung zu drohen. Parteiintern konnten sie sich ja nicht durchsetzen.

Denis Metz Karikatur für Samstag ET 21.12.2019

SZ-Zeichnung: Denis Metz

Es hieß, Corbyn sei ungeeignet zur Führung der Partei und würde keine Wahl gewinnen. Eine programmatische Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit des neuen Kurses fand hingegen kaum statt.

Das ging vier Jahre lang so. Corbyn wurde, wenig überraschend, der unbeliebteste Oppositionsführer ever und musste sich von diesen "Parteifreunden" nach der desaströsen Unterhauswahl nachsagen lassen, dass die Niederlage vor allem ihm zuzuschreiben wäre. Und: Jetzt müsse wieder die kapitalfreundliche Parteimitte ans Ruder. Um die Partei mit sich und den Wählern zu einen. Noch 2017 hingegen hat derselbe Kandidat mit dem gleichen Programm bei den Unterhauswahlen ein deutlich besseres Ergebnis erreicht; fast gleich auf mit den Tories unter Theresa May. Das immer gleiche Lamento kann den Kern also gar nicht treffen. Diesmal ging es bei der Wahl ausschließlich um die Vollendung des Brexit, das heißt für die enttäuschten Labour-Stammwähler um die Hoffnung, eine nationale "Grenzen-zu-Politik" würde gegen den schier endlosen Abstiegskampf der alten Industriegebiete wirken. Deswegen haben die Tories mit Brexit-Kampagnero Boris Johnson auch diese Wähler gewonnen.

Eine Labour-Remain-Kampagne hätte ihnen nichts anbieten können außer: weiter so. Wie verwirrt und orientierungslos muss man sein, um "Ausländer raus" für ein probates Mittel gegen das eigene Elend zu halten. Dass ein linker Ausländerfreund und Internationalist wie Corbyn die von 40 Jahren Niedergang, auch unter New Labour, Gebeutelten selbst mit neuer Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht zu überzeugen vermochte, wen wundert's. Stattdessen hat der alte EU-Skeptiker sich die Option auf ein zweites Referendum von den Remainern aufschwatzen lassen und mit dem Versuch, die Einheit der zerrissenen Partei zu wahren, es sich mit vielen Wählern verdorben.

Christian Saß, Hamburg

Trumps perfide Rolle im Spiel

US-Präsident Trump zeigte sich glücklich über den Ausgang der Wahl in England. Via Twitter gratulierte er seinem Freund im Geiste als einer der Ersten zu dessen "großartigem Sieg". Das kommt nicht von ungefähr. Trumps Amerika hat höchstes Interesse am Zerfall Europas. Grundlage der amerikanischen Politik war es schon immer, seine Gegner und Konkurrenten zu schwächen und in Streit zu verwickeln. Johnson ist der lange Arm Trumps in Europa. Der amerikanische Präsident steht auch an der Seite von Nigel Farage, der die Brexitabstimmung organisierte. Bei seinem Staatsbesuch im Juni 2019 in England empfing er den Chef der Brexit-Partei in der US-Botschaft. Schon davor sagte Trump, Johnson wäre ein "exzellenter" Premierminister.

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Mit dem erneuten Wahlsieg Johnsons hofft Amerika, der EU den Todesstoß versetzen zu können. Daran arbeitet ja auch Steve Bannon, ehemals wichtigster Berater der Regierung Trump. Bannon gründete in einem Kloster in Italien und unter den Fittichen des ultrarechten Salvini eine rechte Kaderschmiede. Dort trieb er den Spaltpilz in Europa voran, indem er die rechten Parteien und Strömungen stärkte, die auch mit den Ausschlag für den Wahlsieg Johnsons gaben.

Conrad Fink, Freiberg/Neckar

Befindlichkeit nach Oscar Wilde

Zu Boris Johnsons bitterem Triumph schreibt Stefan Kornelius: "Diese Wahl beendet Jahre der Blockade und Selbstzerstörung der britischen Politik." Sollte das Verbum nicht "vollendet" heißen? Zum Trost ein Wort von Oscar Wilde, der als halber Ire seine Engländer kennt: "Anderer Meinung zu sein als drei Viertel des englischen Publikums gehört zu den Grundbedingungen geistiger Gesundheit."

Werner von Koppenfels, München

Brexit mit Exit

Auf den ersten Blick hat Boris Johnson mit seinen Torries die Wahl klar gewonnen und kann seinen strammen Ausstiegskurs aus der EU weiter verfolgen. Ob ihm, dem gnadenlosen Populisten, indes die Umsetzung gelingt, ohne großen Schaden anzurichten, kann bezweifelt werden.

Johnson hat vor allem auch gewonnen, weil Labour und die anderen keine Alternative waren; die Briten haben so - gefühlt - das kleinere Übel gewählt. Dieses Wahlergebnis bewerte ich gar positiv, denn nun muss Boris Johnson "liefern". Und ich bewerte es positiv aus einem genau gegensätzlichen Standpunkt heraus: Sollte der Brexit nicht gelingen, was dessen Auswirkungen (Grenzkontrollen, massive Bürokratie, Arbeitslosigkeit etc.) angeht, wird Johnson auch daran gemessen und könnte dann aus dem Amt gejagt werden.

Zudem wird sich ein Lager von Briten entwickeln (vor allem die Jugend), die wieder zurück in die EU wollen, weil sie versuchen wollen, die Schäden des Brexit zu stoppen. Somit zwar kein Exit vom Brexit, aber ein potenzieller Brexit mit Exit. Anders ausgedrückt: Es muss erst viel schlechter kommen, bevor es besser wird.

Sven Jösting, Hamburg

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