Wahl in Frankreich:EU und ihre Werte auf der Kippe

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Nur vier Prozent trennen Emmanuel Macron von Marine Le Pen. Mit einiger Sorge blicken deshalb einige SZ-Leser ins Nachbarland, wo kommenden Sonntag Stichwahl ist. Für die EU könnte sie richtungsenscheidend sein.

"Schlimmer als der Brexit" und "Es wird knapp" vom 12. April, "Und nun: zwei Wochen zittern" vom 11. April:

Das Ende der EU naht

Gerade hat die EU im Kampf gegen Putin zu nie gekannter Einigkeit gefunden, da droht ihr der Super-GAU. Sollte die Rechtspopulistin Marine Le Pen französische Präsidentin werden, dürfte die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form nur noch eine Frage der Zeit sein. Die Achse Berlin-Paris wird unter Le Pen zerbrechen. Frankreich wird auf den Kurs der rechtspopulistisch regierten Länder Ungarn und Polen einschwenken und sich an die Spitze derer setzen, die eine EU der Nationalstaaten wollen. Ein gemeinsames Recht in der EU wird illusorisch. Dann ist der Weg nicht mehr weit zu einer EU, die sich ausschließlich als Freihandelszone versteht, nicht mehr als das Werte- und Friedensprojekt, als das sie sich gerne sieht. Der größte Erfolg der EU ist, dass seit über 70 Jahren kein Krieg mehr auf europäischem Boden stattgefunden hat. Als Wertegemeinschaft tritt die EU mehr in pathetischen Sonntagsreden in Erscheinung als durch Taten. So sieht Brüssel seit Jahren tatenlos zu, wie in Polen und Ungarn die Demokratie ausgehöhlt wird. Teilweise ist es dem Einstimmigkeitsprinzip geschuldet, dessen Reform unmöglich zu sein scheint. Eine Präsidentin Le Pen würde nicht nur die Rechtspopulisten entscheidend stärken, sondern mit ihrer Nähe zu Putin auch die geschlossene Front der EU-Mitgliedsstaaten gegen Russland aufbrechen. Selbst wenn sich Emmanuel Macron durchsetzte, bestärkte dies die Brüsseler Bürokraten nur darin, in gewohntem Trott fortzufahren. Notwendige Reformen würden weiter verschleppt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Ende der EU ist eingeläutet.

Josef Geier, Eging am See

Le Pen-Verhinderungswahl

Bei Hagel und Wind war ich wählen, weil ich Doppelstaater bin. Ich stimme Nils Minkmar zu, die Wahloptionen für "Citoyens" sind nicht besonders üppig. Jedes Mal ist es eine Le Pen-Verhinderungswahl, weshalb ich das mieseste Schmuddelwetter nicht scheue. Gleichwohl fiel mir der Weg diesmal schwerer als sonst: Eigentlich hätte ich andere Sorgen, als einen leicht versnobten, neoliberalen Multimillionär im Amt zu bestätigen. Nun trennen Macron vier Prozent von Le Pen. Der französische Schriftsteller Édouard Louis hat in Interviews von seiner Mutter, die Le Pen immer wieder wählt, erzählt: Für sie, die sozial Abgehängte, sei es die einzige Möglichkeit, das Gefühl zu bekommen, wahrgenommen zu werden. Ich kann das inzwischen nachvollziehen. Macron hat sich kaum gezeigt: Er schwebt offensichtlich über den Dingen wie einst der "Roi Soleil".

Wer mal in der Metro Richtung Père Lachaise saß, wird gestaunt haben, einziger Fahrgast ohne maghrebinische oder schwarzafrikanische Wurzeln gewesen zu sein. Das gibt es in Deutschland nicht. Der gehobene, an Eliteschulen ausgebildete und nicht selten versnobte Staatsadel steht denen gegenüber, die unter den sozialen Verhältnissen leiden und kaum Aufstiegschancen haben. Was hat das mit Égalité zu tun? Natürlich leiden am unteren Rand neue Noch-Migranten und Schon-Franzosen-Citoyens gleichermaßen unter Ausgrenzung. Nur denkt sich Édouard Louis' Mutter: "Ich war zuerst da." Deshalb ist der Wahlkampf so polarisiert: Weil die Ideale der Republik (liberté, égalité, fraternité) vielen Franzosen, besonders den "Abgehängten", weltfremd vorkommen. Die Situation in Frankreich offenbart die Dysfunktionalität eines politischen Systems. Die sozialen Verwerfungen in Deutschland sind genauso schändlich wie in Frankreich, nur hat Angela Merkel das besser kaschieren können, weil kein Land so vom Euro profitiert hat wie der Exportweltmeister.

Sebastian Bernard Dégardin, Hamburg

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