Vaterunser:Strittige Reform eines Weltgebets

Wenn es nach Papst Franziskus geht, beten Christen auf Deutsch bald ,,überlasse uns nicht der Versuchung". Aber braucht es das? Viele Zuschriften haben die SZ zu dieser Frage erreicht, und die Meinungen und Deutungen gehen weit auseinander.

Vaterunser: SZ-Zeichnung: Denis Metz

SZ-Zeichnung: Denis Metz

Zu "Die Versuchung" vom 27./28.Februar:

Es gäbe viel mehr zu ändern

Der Papst will Schluss machen mit dem Gottesbild vom hinterhältigen Herrgott, der den Menschen Fallen stellt, um sie auf die Probe zu stellen. Das ist ihm so wichtig, dass er dazu den Text des Vaterunser-Gebets verändert. Der neue Wortlaut ist aber ein Eingriff in den Text und nicht einfach eine andere Übersetzung, wie der geschätzte Theologe Zulehner suggeriert. Er argumentiert, man spreche ja auch nicht mehr vom Weibern, sondern von Frauen. Gut so. Aber man übersetzt trotzdem nicht mit Birne, wenn da Apfel steht, nur weil die Birne einem besser schmeckt.

Die italienischen und französischen Katholiken beten jetzt "Überlasse uns nicht der Versuchung", weil ihnen das besser schmeckt. Wenn man jetzt mit der Abrissbirne an den Text gehen will, hätte ich weitere Wünsche. Da die Anrede "Vater" die unselige Vorstellung vom männlichen autoritären Vatergott transportieren könnte, sollte man den Anfang des Gebets verändern, zum Beispiel in "Unsere Mutter" oder, wenn man ganz aus dem Genderdilemma aussteigen will: "Unsere Lebensquelle" oder so.

Zudem sollte man endlich die fünfte Bitte so übersetzen, wie sie im Urtext steht: "Erlass uns unsere Schulden, wie auch wir denen erlassen, die uns etwas schulden", damit endlich klar wird, dass hier die Befreiung aus materieller Verschuldung erfleht wird. Und während man im besten Glauben an den mütterlichen und barmherzigen Gott so schön in Fahrt kommt, merkt man, dass man auf einmal mitten in der Versuchung steckt, um der Reinhaltung der eigenen Gotteserkenntnis willen aus der Gebetsgemeinschaft mit anderen Christen auszusteigen. Das verkneift man sich doch besser und ist fast versucht zu sagen: Das ist katholische Hybris.

Silke Niemeyer, Pfarrerin, Lüdinghausen

Träge Kirche

Vor circa 30 Jahren wurde auf dem Benediktushof in Würzburg diese Version vorgeschlagen: ... und führe uns in der Versuchung... Aber die Kirche ist träge.

Engelbert Winkler, Heilbronn

Ein Übersetzungsfehler?

Alle Bitten im Vaterunser sind bis auf eine klar, deutlich und verständlich. Die Passage "und führe uns nicht in Versuchung" sticht negativ heraus und führt zu einem logischen Bruch. Warum sollte ein gütiger Gott seine Anhänger in Versuchung führen? Hier liegt nach meiner Kenntnis ein Übersetzungsfehler vor. Richtig heißt es: "Führe uns in der Versuchung und erlöse uns von dem Bösen." Dem kommt die italienische Version, die seit 29. November 2020 gilt, nur ansatzweise nahe. Sie lautet: "non abbandonarci alla tentazione" (wörtlich übersetzt: Lass uns in der Versuchung nicht im Stich). In Deutsch neuerdings: "Überlasse uns nicht der Versuchung". Wie viel sinnvoller wäre es doch, um Führung zu bitten, um an der Versuchung zu reifen.

Karl-Ludwig Wagner, Putzbrunn

Vertrauen in die Menschen

Gott ist nicht der Versucher, aber er lässt die Versuchung zu. Anstelle niedere Beweggründe zu vermuten, kann man auch ein unendliches Vertrauen sehen, dass die Gottheit den Menschen schenkt. Das zeigt Goethe in seinem "Faust". Die Hiob-Geschichte aufgreifend, gewährt darin Gott dem Mephisto freie Hand, Faust in Versuchung zu führen. Am Ende aber heißt es trotz all der Verheerungen, die Faust angerichtet hat, durch den Chor der Engel: "Wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Der eingesehene Irrtum ist eben eine höhere Wahrheit als die vermeintlich schon immer gewusste.

Trotzdem muss ich die Versuchungen mit all dem daraus entstehenden Leid nicht einfach hinnehmen, auch wenn man sie im Nachhinein als Prüfungen der Gottheit ansehen kann. Durch die besagte Bitte kann ich meine Wachheit schärfen, dass ich immer im Großen oder Kleinen Gefahr laufe, seelisch auszuufern oder zu eng zu werden, zu locker oder zu starr oder zu tief zu fallen oder überheblich abzuheben. So kann die Bitte darauf zielen, dass ich mich dazu aufrufe, was ich durch Versuchungen lernen kann, schon aus eigenem Bemühen zu entwickeln, sodass eine Prüfung weniger nötig wird. Damit entziehe ich mich ein Stück weit meiner Opferrolle gegenüber den Versuchungen.

Den Verlust meiner Freiheit in meinem Fehlverhalten kann ich dann zurückgewinnen, wenn ich mich den Konsequenzen meines Handelns stelle und alles daransetze, es wieder gut zu machen. Dazu wäre die christliche Gnade als Beistand nötig, aber nicht in der Form einer pauschalen Sündenvergebung oder der kindlichen Hoffnung, dass Gott und die Kirche schon ohne mich alles wieder gut machen.

Würde man uns die Fehler, Sünden und Versuchungen wegnehmen, dann damit auch unsere Selbständigkeit und unser Entwicklungspotenzial. Es muss ja etwas zum Überwinden geben, wenn es in der Offenbarung des Johannes heißt, dass die Überwinder zu Säulen in Gottes Tempel werden sollen.

Tarik Özkök, Hamburg

Beitrag zur Charakterbildung

Die fragliche Stelle im Gebet "Und führe uns nicht in Versuchung" stört mich schon lange! Es sollte heißen: Steh uns bei in der Versuchung beziehungsweise den Verlockungen; ganz egal, was der Auslöser für die Versuchung war! Ich meine sogar, dass Versuchungen zur Charakterbildung beitragen, umso wichtiger, hier Hilfe zu bekommen.

Jürgen Bauer, Riedering

Gott soll uns stark machen

Den Vorschlag, die Vaterunserbitte "Und führe uns nicht in Versuchung" in ein "Überlasse uns nicht der Versuchung" zu verwandeln, halte ich als zu wenig zeitgemäß. Mag sie der Übersetzung vielleicht näher liegen, widerspricht sie doch dem Wissen, dass es im Unterbewusstsein kein "nicht" gibt und wir Menschen eher davon in Erinnerung behalten, dass Gott uns in der Versuchung im Stich lassen könnte. Heilender und tröstender wäre für mich die Wendung: "Mach uns stark, der Versuchung zu widerstehen." Das beinhaltet für mich ein großes Maß an Selbstreflexion und Eigenverantwortung, wovon die Welt gerade momentan nicht genug haben kann.

Gertraud Strohhofer-Maier,Religionslehrerin, München

Eine Frage der Weltanschauung

Die Diskussionen um die moralische und damit auch die spirituelle Dekadenz in der katholischen Kirche ist unausweichlich und nötig. Sie erscheint allerdings auch als Folge einer verbreiteten Hybris: des einseitigen Glaubens an die Herrschaft des Materiellen. Die Bitte um eine Führung durch Gott wird heute schon deshalb verbreitet als absurd aufgefasst, weil sich der Satz Nietzsches "Gott ist tot" in einer unheiligen Dominanz materialistischer Weltanschauung durchgesetzt hat. Als Versuchung sollten deshalb nicht allein Alltagsversuchungen unterhalb der Gürtellinie angesehen werden, sondern der materielle Weltbeherrschungswahn, die zunehmend entfremdete Abhängigkeit vom Maschinenwesen, dem sich die Menschen hingeben, in diesem Sinne "überlassen".

Es geht dabei mehr und mehr ums Ganze der Schöpfung und ihrer Quellen. Und dieses Ganze hat man einmal als Gott und somit "heilig" für wahr genommen. Hören und Sehen sind diesbezüglich vergangen. Der oft verschmähte Joseph Beuys hat einmal formuliert: "Die Christuskraft, das Evolutionsprinzip, kann nun aus dem Menschen quellen, es kann aus dem Menschen hervorbrechen, denn die alte Evolution ist bis heute abgeschlossen. Das ist der Grund der Krise. Alles, was an Neuem sich auf der Erde vollzieht, muss sich durch den Menschen vollziehen."

Die Verantwortung für das Miteinander alles Lebendigen auf der Erde sollte jedem Menschen wieder heilig werden. Das braucht Selbsterkenntnis und -führung. Darum scheint es mir in der Bitte im Vaterunser zu gehen, denn die Versuchung besteht meines Erachtens in der Selbstgerechtigkeit, der Rücksichtslosigkeit, der Zerstörung.

Kai Hansen, Nürtingen

Das Gebet einfach kürzen

Könnte die Lösung des Problems nicht auch in diesem Fall - wie oft in Verhandlungen um strittige Begriffe - in einer klärenden Kürzung und Konzentration der entsprechenden Passage liegen? Also in "... unser tägliches Brot gib uns heute, vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Führe uns und erlöse uns von dem Bösen." Denn darum geht es doch allen, die an Gott glauben und zu ihm rufen: Er möge sie führen und von dem Bösen erlösen.

Dr. Ludwig Kippes, Puchheim

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