Valery Gergiev:War die Kündigung des Dirigenten richtig?

Die Entscheidung des Münchner Oberbürgermeisters ist sehr umstritten. Die einen meinen, sie sei überfällig, die anderen sehen darin den ersten Schritt zur Diktatur, der zudem rechtswidrig sei.

Dirigent Waleri Gergijew

Zur Eröffnung der Isarphilharmonie im Oktober dirigierte Valery Gergiev noch.

(Foto: dpa)

Zu "Ohne Takt" und zu "Der Rauswurf von Gergiev ist ein trauriger Akt" vom 2. März, sowie zu "Russen raus?" vom 3. März:

Wehre den Anfängen

Kommentator Detlef Esslinger meint, niemand wisse, was der russische Dirigent Valery Gergiev genau über den Überfall auf die Ukraine wirklich denke und Helmut Mauró sieht die Freiheit der Kunst bedroht. Nun hat aber Oberbürgermeister (OB) Dieter Reiter Herrn Gergiev direkt gefragt und keine Antwort erhalten. In diesem Falle gilt wohl "qui taceat consentire videtur" (wer schweigt, scheint zuzustimmen), sonst hätte sich Gergiev ja erklärt. Wo die Freiheit eines Volkes geknechtet wird, wo Menschen brutal getötet werden und ihr Lebensraum vorsätzlich zerstört wird, muss Kunst, die ja stets politisch ist, wie die Politik klar Position beziehen. Ein Lavieren gibt es in diesem Falle nicht.

Ein klares Ja zur Freiheit der Kunst. Doch hat diese dort Grenzen, wo ein Diktator Menschen brutal töten lässt und sein Freundeskreis dazu eisern schweigt. Anno 1933 haben leider auch viele geschwiegen, viel zu viele. Principiis obsta! (Wehre den Anfängen!)

Dr. Bernhard Kirchgessner, Domvikar, Leiter von Spectrum Kirche, Liturgische

Komfortzone Demokratie

Für einen Arbeitgeber ist die Ankündigung einer fristlosen Kündigung die Ultima Ratio. Es gilt bis zum Schluss die Suche nach Lösungen und gemeinsamer Zukunft mit dem Mitarbeitenden als goldene Regel. War die Haltung zu Putin Teil des Arbeitsvertrags? Wohl kaum, sonst wäre Herr Gergiev der ungeeignetste Kandidat zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses, und erst recht bei der Verlängerung gewesen.

Herr Gergiev ist als internationaler Dirigent auch in seinem Heimatland tätig. Wissen Sie, Herr Reiter, was es für Verwandte, Freunde, Kollegen, Ensembles dort bedeutet, wenn Herr Gergiev sich klar von einem Diktator Putin distanziert? Aus der Komfortzone der Demokratie heraus kann man sich die erheblichen Einschränkungen im Leben und Wirken von Menschen, die die Diktatur ins Visier nimmt, nicht vorstellen. Das zu Ihrer Entschuldigung. Ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Mitarbeiter Valery Gergiev wäre zum Verständnis aufschlussreich gewesen. Sie, Herr Reiter, haben putinesk agiert: Ultimatum und, peng, Rausschmiss. Die Stadt München hat sich damit nicht nur als Arbeitgeber disqualifiziert.

Dr. Isabel Radeloff, Weilheim

Unglaubwürdig

Man kann über die Kündigung durch die Stadt München unterschiedlicher Auffassung sein. Künstler sollten nicht dazu gezwungen werden, sich öffentlich von politischen Entwicklungen zu distanzieren. Gergiev sympathisiert aber nicht nur mit dem Diktator, er hat sich mehrmals öffentlich für ihn engagiert, und da liegt der Unterschied.

Kann sich Herr Esslinger vorstellen, dass angesichts der ungeheuerlichen Gräuel dieses von Putin vom Zaun gebrochenen Krieges, angesichts der entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen Herr Gergiev in einer Beethoven-Symphonie den dort enthaltenen Humanismus dirigiert und interpretiert? Oder eine Schostakowitsch-Symphonie aufführt, in der der politisch Verfolgte und Drangsalierte das menschenverachtende System Russlands anprangert? Das entzieht sich doch jeder Vorstellung.

Werner Siebeck, Gräfelfing

Kündigung des Abonnements

Hiermit kündige ich mein Konzertabonnement mit sofortiger Wirkung. Ohne Zweifel sind der Einmarsch russischer Truppen und die Eroberung der Ukraine ein himmelschreiendes, menschenverachtendes Unrecht und durch nichts zu entschuldigen oder schönzureden. Für mich ist aber nicht nachvollziehbar, wieso ein künstlerisch begnadeter, mit seinem Schaffen für Kunst und Versöhnung einstehender Musiker wie Valery Gergiev ohne Rechtsgrundlage aus seinem Amt entfernt wird. Was hat sich der Maestro persönlich zuschulden kommen lassen, um das zu rechtfertigen?

Ist nicht das die Wurzel des Totalitarismus, Menschen wegen (einer noch nicht einmal geäußerten) Meinung zu einem von Ihnen nicht zu verantwortenden Vorgang zu diskriminieren, sie zu benachteiligen oder - wie in diesem Fall - ihres Amtes zu entheben? Ich schäme mich für meine Heimatstadt und ihre Administration, ich schäme mich für einen OB, der der von den USA diktierten, stereotypen Reaktion der westlichen Welt offensichtlich keine eigene moralische Position entgegenzusetzen hat, und möchte nicht mehr länger Abonnent bleiben. Ich hoffe auf Frieden für die Menschen und ein baldiges Ende des Krieges, auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass Maßnahmen wie die Vertreibung russischer Künstler konstruktiv zu einer Lösung beitragen werden.

Dr. Heinz Breidenbach, München

Dem Publikum nicht zuzumuten

Helmut Mauró ist in vielem zuzustimmen, insbesondere in der Kritik, die Causa Gergiev über einen offenen Brief mit hartem Ultimatum an die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Vorgehen wie in Zürich im Fall von Anna Netrebko hätte vielleicht zu einem weniger spektakulären und für beide Seiten gesichtswahrenden Ergebnis führen können. Die kritische Würdigung, Herrn Gergiev überhaupt engagiert und den Vertrag dann auch noch verlängert zu haben, ist jedoch viel zu billig, haben doch nach den Kriegen in Georgien, im Donbass und der Krim-Annexion Politik und Wirtschaft mit Herrn Putin weitestgehend unbeeinträchtigt weiter Geschäfte betrieben.

Herrn Gergiev als armes Opfer darzustellen wird der Sache aber nicht gerecht. Die Feststellung, "genau genommen hat ihn in den vergangenen Tagen ganz Europa ausradiert", finde ich geschmacklos. Ums Ausradieren kümmert sich momentan eher Gergievs Freund. Die Entscheidung, sich von Herrn Gergiev zu trennen, kann man nur gutheißen. Denn einem maßgeblichen Player (neben der Stadt München, vertreten durch OB Reiter und den Philharmonikern sowie Herrn Gergiev) hat Herr Mauró nur marginale Bedeutung beigemessen: dem Publikum der Philharmoniker. Ist es ihm zuzumuten, einem Maestro zu applaudieren, der nicht in der Lage ist, sich von kriminellen Machenschaften zu distanzieren, selbst wenn sie sein Intimus begeht? Ich denke, nein. Es wäre interessant gewesen, wie das Publikum beim nächsten Erscheinen von Herrn Gergiev auf dem Podium reagiert hätte. Das werden wir nun nicht mehr erleben...

Dr. Thomas Wild, München

Verfassungsrechtlich verboten

Die Entlassung Gergievs für eine unterlassene Meinungsäußerung war ein klarer Bruch der Bayerischen Verfassung. Diese schreibt in Artikel 110 vor: "Jeder Bewohner Bayerns hat das Recht, seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- und Anstellungsvertrag hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht." Nichts anderes hat Gergiev getan. Er hat sein Grundrecht wahrgenommen, seine Meinung über Russlands Invasion der Ukraine für sich zu behalten und sich nicht als Sprachrohr für OB Reiters Meinung zwangsrekrutieren zu lassen. Dafür hat Reiter ihm das Arbeitsverhältnis gekündigt, obwohl die Verfassung dies ausdrücklich verbietet. Darin liegt für mich der größte Skandal.

Thomas Blankenhorn, Eberbach

Der Schritt war überfällig

War es wirklich "etwas zu viel verlangt", dass sich Valery Gergiev ausdrücklich von Putin und dem Angriff auf die Ukraine distanzieren sollte? Keineswegs. Und was hat das mit "Heldentum" zu tun, wenn OB Reiter schreibt, er, Reiter, habe sich deutlich dazu positioniert? Was wäre denn die Alternative gewesen? Gergiev, dem bestbezahlten Mitarbeiter der Stadt München, wieder und wieder den roten Teppich auszurollen und ihn einfach schweigen zu lassen?

Schon seit Gergiev Chef der Philharmoniker ist, hat er sich mit seinen homophoben Äußerungen und seinem speichelleckerischen Verhalten gegenüber Putin als untragbar entpuppt - viel früher hätte man Konsequenzen ziehen sollen. Höchste Zeit, dass diesem Trauerspiel jetzt ein Ende bereitet wurde. Die (Musik)-Stadt München und alle anderen Städte, Theater und Orchester, die ihm jetzt den Rücken kehren, müssen aufhören, Herrn Gergiev Geld in den Rachen zu schmeißen: Eine Künstlerpersönlichkeit und ein Dirigent von "Weltrang" war Gergiev nie, dafür muss man schon mehr Sensibilität und Humanität in die Waagschale werfen als Gergiev.

Martin Busen, Frankfurt am Main

Die Kunst, zu unterscheiden

Von einer öffentlichen Person eine mir genehme öffentliche Meinung einzufordern ist Diktatur. Ein Verhalten, das wir zu Recht autokratischen Regimen vorwerfen, und dessen Abschaffung einfordern. Eine geäußerte, nicht akzeptable Meinung mit Konsequenzen zu ahnden, wenn sie von besagter öffentlicher Person kommt, darüber kann man diskutieren, aber eine genehme zu verlangen, das geht zu weit. Von hier zur Gesinnungsschnüffelei ist es nur ein kleiner Schritt.

Es war schon immer eine Kunst, zwischen Mann und Werk zu unterscheiden, aber nichtsdestotrotz notwendig. Das Problem liegt in der menschlichen Sucht nach Helden und der Unfähigkeit, ihnen Schwächen zuzugestehen, da ja ein Makel auf unser Urteilsvermögen fallen würde. Daher diese Überreaktionen. Dasselbe Problem hat man bei Ehrenbürgerschaften, Denkmälern und Straßennamen. Noch lebende Menschen, deren Zukunft man nicht voraussehen kann, zu ehren, war mir schon immer ein Graus. Frühestens zum 100. Todestag weiß man, woran man ist. Aber wer sagt, dass die Meinung ewig gültig ist?

Ferdinand Maier, Passau

Musik und Politik

Während in der Ukraine Tausende ihr Leben verlieren, ist unter Musikern und Musikliebhabern in München eine zermürbende, aber wichtige Diskussion ausgebrochen: Ist es richtig, dass OB Dieter Reiter den russischen Dirigenten und Putin-Freund Valery Gergiev gefeuert hat? Und hat man als Künstler eine Pflicht, sich politisch zu positionieren? Und was es für mich als Musikerin bedeutet, das zu tun.

Die Empörung über die Entscheidung von OB Reiter ist groß. Der Antihumanist ist aber nicht er oder die Stadt München, sondern Putin. Man verbietet auch nicht die Kunst an sich, sondern entscheidet sich gegen eine Zusammenarbeit mit dem Unterstützer eines Kriegstreibers, denn Gergiev hatte sich schon lange vor dem Krieg sehr eindeutig positioniert.

Wenn ich Künstler werde, nehme ich in Kauf, dass ich bis zu einem gewissen Maße in der Öffentlichkeit stehe. Es ist an mir, den Einfluss, den ich habe, verantwortungsvoll einzusetzen und die Folgen zu tragen, wenn ich mich auf Zusammenarbeiten einlasse. Ich entscheide, wie meine Kunst sich entwickelt. Ob ich für einen Konzern, den ich zweifelhaft finde, oder eine politische Partei, die mir nicht entspricht, musikalisch tätig werde. Manchmal gelingt es, manchmal nicht - sei es aus wirtschaftlichen Gründen oder aus Unwissenheit. Das ist alles menschlich. Aber ich sehe es als eine wichtige Aufgabe, diese Gegebenheiten zu hinterfragen und zu ändern. Denn Kunst ist nicht von Grund auf gut, auch wenn wir das gern glauben wollen. Wir müssen sie erst dazu machen.

Spätestens vom Ersten Weltkrieg an missbrauchte man Musik im großen Stil für Propagandazwecke. Es ist auch ein offenes Geheimnis, dass Musik in Foltergefängnissen benutzt wird. Ich möchte kein Konzert mit einem Dirigenten besuchen, der sich und die Musik, die er dirigiert, und sei es "nur" für seine Karriere, von einem Mann missbrauchen lässt, der bereit wäre, einen dritten Weltkrieg anzuzetteln.

Ist es für Künstler also besser, keine Position zu beziehen? Ich denke nicht. Denn wer, wenn nicht wir Künstler, kann die Kunst zurückerobern, sie schützen und dafür sorgen, dass sie einen guten, humanistischen Beitrag in dieser Welt leisten kann.

Miriam Hanika, München Oboistin, Liedermacherin

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