Triage:Das Los sollte nicht über Leben und Tod entscheiden

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Wenn nicht alle Patienten gerettet werden können, müssen Ärzte eine Auswahl treffen. Ein schwieriges Unterfangen. Um ihnen zu helfen, denkt man derzeit über Kriterien nach. Ein SZ-Vorschlag findet bisher keine Anhänger unter den Lesern.

Wenn nicht alle Patienten gerettet werden können, müssen Ärzte eine Auswahl treffen. Doch nach welchen Kriterien sollen sie entscheiden? (Foto: dpa)

"Tücken der Triage" vom 9. Mai:

Eine Form von sich drücken

Natürlich müssen Triage-Entscheidungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen und um Ärztinnen und Ärzte in schwieriger Lage nicht länger allein zu lassen, genauer geregelt werden. Aber es kann Situationen geben, in denen eine derartige Entscheidung auch "ex-ante" getroffen werden muss. Es gibt ethisch ja keinen Grund, einmal so (vor Therapiebeginn) und das andere Mal (nachdem die Therapie bereits begonnen wurde) anders zu entscheiden, auch wenn im Prinzip dieselbe Situation vorliegt.

Dass Behinderte einen besonderen Schutz genießen, versteht sich von selbst, aber in der Mehrheit der Fälle geht es doch um Patienten und Patientinnen mit sehr unterschiedlichen Lebenserwartungen.

Dass eine Entscheidung zwischen der Weiterbehandlung eines Menschen, der zum Beispiel seit Wochen an der ECMO (künstlichen Lunge) hängt und eine Überlebenschance von weniger als fünf Prozent hat, und einem wegen einer Operation akut zu Beatmenden zum Beispiel getroffen werden muss, ist wissenschaftlich und ethisch leicht nachvollziehbar.

Hier die Entscheidung per "Los" ins Spiel zu bringen, ist für mich unverständlich: Man drückt sich vor einer Entscheidung.

Dr. Severin Daum, Berlin

Wie Schiffshavarie

Worin liegt die Koinzidenz zwischen einer Schiffshavarie, bei der ausreichend Rettungsboote fehlen, und der Triageambivalenz? Auf dem Meer würden Frauen mit Kindern priorisiert, nicht weil sie die Schwächsten sind; denn auch die Starken haben keine Überlebenschance. Sondern weil sie die Basis für den Fortbestand des Gemeinwesens sind.

Genau diese Ambivalenz stellt sich bei der Triage. Also muss unter Opportunitätsgesichtspunkten derjenige zurückstehen, dem eine dürrere Prognose zuteil wird. Dass das Behinderte besonders trifft, ist in einer Schicksalsgemeinschaft bitter, aber nicht abwendbar. Vermutlich würde selbst ein Behinderter nicht auf einer Privilegierung bestehen.

Christoph Schönberger, Aachen

Losen ist auch eine Entscheidung

Man stelle sich vor: Nach Christina Berndts Vorschlag sitzt am Eingang eines überfüllten Krankenhauses ein Verwaltungsbeamter, zur rechtlichen Absicherung daneben noch einer. Zwei Patienten begehren Einlass, und der zuständige Beamte zieht das Los: Ein offensichtlich gebrechlicher Mensch wird hereingelassen und der andere, ein anscheinend gesundheitlich unbelasteter, muss draußen bleiben. Höchstwahrscheinlich sinken mit jeder Stunde, die dieser draußen ohne Behandlung warten muss, seine anfänglich guten Überlebenschancen.

Rebelliert bei dieser Vorstellung nicht unser Gerechtigkeitsempfinden? Ich glaube, man darf eine Entscheidung über Leben und Tod nicht deshalb an den blinden Zufall delegieren, weil man eine Abwägung nach sachlichen Kriterien für zu fehleranfällig hält beziehungsweise für grundsätzlich jenseits menschlicher Kompetenz.

Auch sich aufs Würfeln beschränken zu wollen ist eine Art Entscheidung. Wenn dabei etwas herauskommt, das einen im Traum verfolgen wird, ist es kein Trost, dass der Würfel schuld war. Im Mittelalter gab es noch das Gottesurteil. Aber heute sollte man den Mut haben, selber zu entscheiden.

Axel Lehmann, München

Hohes Berufsethos

"Es ist oft genug eine Entscheidung darüber, wer leben darf und wer sterben muss." Ja. Leider. Ist so. That's Life (So ist das Leben).

Ich bin Jurist, seit vielen Jahren Betreuungsrichter, dass man über Leben und Tod entscheiden muss, gehört bei uns Betreuungsrichtern zur traurigen Aufgabe. Das ist nicht neu, es hat nur früher keinen interessiert. Ich habe einen schwerstbehinderten Sohn Simon, deshalb berührt mich das Thema sehr. Er ist körperlich massiv eingeschränkt (Muskeldystrophie Duchenne), geistig aber voll dabei. Wir (Juristenfamilie, mein anderer Sohn studiert auch Jura) haben dieses Thema so oft diskutiert. Artikel 1 Grundgesetz: Jedes Leben ist gleich wertvoll, bla, bla, bla... Am Ende des Tages: Triage heißt aussieben. Das kann man nicht schönreden, ist Mist, aber alternativlos. Wenn Christina Berndt ihren Artikel noch mal lesen würde, würde sie feststellen, dass sie auch keine Alternative vorschlägt. Wie auch.

Corona war für unser Sorgenkind natürlich ein Riesenthema. Wenn er es kriegt, ist die Überlebenswahrscheinlichkeit nicht ganz so hoch. Seine Antwort war, dass besser er es kriegt als der Opa. Vollkommen sachlich meinte er, dass er eh nicht mehr gesund ist und wohl nicht ganz so lange lebt, da wär's für den Opa wichtiger. Ich musste auf die Toilette gehen und fünf Minuten weinen. Danach habe ich hinuntergeschluckt, kurz mit meiner Frau, die die Pflege im Wesentlichen trägt, Blicke gewechselt und beschlossen, dass unser Sohn klüger beziehungsweise realistischer ist als wir.

"Behinderte" sind nicht dumm, sie können ihre Stimme selber erheben, haben Interessensverbände, brauchen nur eine Plattform, so gesehen war der Artikel doch hilfreich.

"Wirklich gerecht wäre daher Folgendes: Wer zuerst da ist, wird zuerst behandelt; und wenn zu viele gleichzeitig da sind, wird gelost. Das mag rudimentär klingen, aber nur das garantiert am Ende allen Kranken den gleichen, fairen Zugang zur Behandlung." Das ist menschenunwürdig. Ich habe seit vielen Jahren viel zu viel Kontakt zu Ärzten. Wenn da einer würfelt, zeige ich ihn oder sie wegen Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung an. Hab ich noch nie, brauche ich auch nicht, sie haben alle ein sehr hohes Berufsethos.

Manfred Thür, Miesbach, Richter am Amtsgericht

Nicht regelbare Grenzbereiche

Das Problem scheint mir zu sein, dass bei solch komplizierten und zu ethischen Dilemmata neigenden Themen Menschen Entscheidungen und Abwägungen treffen müssen, für die sie nicht ausreichend qualifiziert sind. Viele haben bereits Mühe, das eigentliche Problem zu erkennen: Es geht nicht darum, Menschen medizinische Hilfe vorzuenthalten (das wäre ein Skandal), sondern - bei begrenzten Mitteln (was bei unvorhersehbaren Katastrophen immer eintreten kann) - diese Mittel so einzusetzen, dass möglichst viele überleben. Das ist ethisch erst mal nicht zu beanstanden. Ein Losverfahren ist meines Erachtens aber absurd. Im ersten Moment mag es zwar "gerecht" erscheinen, es wird aber definitiv nicht zu einem maximalen Ergebnis im Hinblick auf das Überleben führen: das heißt, zu vermeidbaren Todesfällen.

Ein Beispiel: Alle verfügbaren Notärzte kommen zu einem Zugunglück mit Dutzenden Schwerstverletzten. Wem helfen sie? Allen geht nicht und allen gleichzeitig sowieso nicht? Sollen sie erst mal losen, wie Christina Berndt das vorschlägt? Nein, es braucht medizinischen Sachverstand und klare Algorithmen auf dem Boden ethischer Richtlinien. Und das gibt es durchaus. Danach wird in der täglichen Praxis gehandelt.

Man kann das vielleicht in Gesetzesform zu gießen versuchen - ich bin mir da nicht sicher. Vor lauter Rücksichtnahme und "korrekten" Überlegungen kommt am Ende aber vielleicht nichts Sinnvolles dabei raus. Es gibt wahrscheinlich nicht regelbare Grenzbereiche, vielleicht muss man das akzeptieren.

Klaus Fuhrmann, Freiburg

© SZ vom 03.06.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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