SZ unterwegs:Hin und weg

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So stellt man sich als Romantiker das Camping vor. (Foto: Claudia Rehm/imago/Westend61)

Vom Luftsprung zur Flugscham: Das Urlaubsverhalten der Deutschen verändert sich, wie man im Reiseteil der SZ verfolgen kann. Eines aber ist geblieben.

Von Jochen Temsch

Vor Kurzem haben wir eine geschätzte Kollegin in den Ruhestand verabschiedet. Sie hat 32 Jahre lang für die Süddeutsche Zeitung gearbeitet, die meiste Zeit als Reiseredakteurin. Die Aufzählung ihrer besten Reportagen in der Dankesrede hörte sich an wie eine Liste von Dingen, die man einmal im Leben gemacht haben muss: Eisbären beobachten in Kanada, die Alpen zu Fuß überqueren, in Australien mit Walhaien tauchen, im Wallis Alphorn spielen lernen. Die Kollegin ist mit dem Schlauchboot zu den Dschungelbewohnern Borneos gefahren, hat den Leuchtturmwärter von Kap Hoorn besucht, in Lappland Pfannkuchen aus Rentierblut gegessen und auf den Galapagos-Inseln Darwinfinken beobachtet.

Die Arbeitsbedingungen der Reiseredaktion haben sich in den vergangenen Jahren wie in allen anderen Bereichen der Zeitung stark verändert. Eng getaktete Dienstpläne, Konferenzen und die aufwändige Aufbereitung von Geschichten für die gedruckte Zeitung wie für diverse digitale Kanäle bestimmen den Redaktionsalltag. Lange, abenteuerliche Recherchen an einem der Enden der Welt sind inzwischen die Ausnahme. Und trotz allem hat das Schreiben über Reisen immer noch mit Träumen zu tun.

Der erste Reiseteil erschien bereits vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg

77 Jahre SZ, das bedeutet 73 Jahre Reiseteil. Fast von Anfang an waren Berichte von unterwegs Teil des redaktionellen Angebots. Die ersten Reiseseiten erschien bereits am 14. April 1949. Der Krieg war erst vier Jahre vorbei, die Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegründet. Berlin hing noch an der alliierten Luftbrücke, in Nürnberg fanden die letzten Kriegsverbrecherprozesse statt. Das Fernweh war groß.

Reisen ist für viele Menschen eine unverzichtbare Form der Erholung, ein Ausgleich zu den Mühen des Alltags. Die meisten Reisenden wollen einfach mal weg, wohin genau, ist gar nicht so wichtig. Am liebsten an irgendeinen Strand, wo er liegt, ist zweitrangig. Das ergibt die Dauerstudie der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen zum Urlaubsverhalten der Deutschen mit großer Verlässlichkeit seit 1970 Jahr für Jahr.

2022 war die Bereitschaft der Deutschen, ihre Koffer zu packen, so groß wie nie. Zwei Drittel der Bevölkerung planten eine Reise im Sommer. Alles, was dazu notwendig ist - Zeit, Geld und Lust -, war in diesem Jahr im Höchstmaß vorhanden. Weder der Krieg in der Ukraine noch die Energiekrise noch die durch Trockenheit und Brände wieder ein Stück näher ins Bewusstsein gerückte Klimakatastrophe und das Wissen darum, welchen Beitrag das Um-die-Welt-Fliegen dazu leistet, konnten die Reiselust trüben. Das Fernweh: stärker als alles andere - kein Wunder nach zwei bleiernen Corona-Jahren.

In beliebten Metropolen steigen Millionen Menschen in Privatwohnungen ab - und verändern den Alltag der Einheimischen

Die beliebteste Urlaubsform hierzulande ist nach wie vor die Pauschalreise. Aber der Anteil derjenigen, die Tickets und Unterkünfte einzeln oder gar nichts vorab buchen, steigt. Längst ist der Individualtourismus zum Massenphänomen geworden.

In beliebten Metropolen wie Barcelona, Amsterdam oder Florenz steigen jährlich Millionen Menschen mithilfe von Buchungsportalen wie Airbnb in Privatwohnungen ab - und verändern das Leben der Einheimischen. Mieten gehen durch die Decke, Tante-Emma-Läden für den täglichen Bedarf werden von Coffee-to-go-Shops und Souvenirgeschäften verdrängt, die Überfüllung der öffentlichen Verkehrsmittel und Plätze nervt Besucher wie Besuchte. Mancherorts gehen sie gegen die Urlauber auf die Straße, Politiker wie Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau sind gefordert, den Tourismus besser zu steuern und einzudämmen. Die einzelnen Gäste sind sich vielleicht gar nicht bewusst, was sie mit ihrem Aufenthalt inmitten der Wohnviertel anrichten können, und haben das Gefühl, einen besonders authentischen Urlaub zu erleben.

Ähnlich paradox ist das Phänomen der Instagram-Spots. Schon in den Neunzigerjahren, als Buchreihen wie Lonely Planet und Reise Know-How noch die einzigen verlässlichen Kompasse für Rucksackreisende waren, formierte sich auf den empfohlenen, einst unausgetretenen Pfaden durch Südostasien eine Massenprozession der Individualisten, benannt nach ihrer Leibspeise: Banana Pancake Trail. Heute lotsen die Nutzer sozialer Medien sich gegenseitig zu Stellen, an denen sie eindrucksvolle Fotos machen können, und entzaubern die Atmosphäre. Wer sich beispielsweise auf der waghalsig zu einem Stausee vorgereckten Felszunge Trolltunga in Norwegen inszenieren will, muss etwa zehn Stunden durch die karge Fjell-Landschaft wandern - und dann hinter Dutzenden anderen Touristen anstehen. Neuerdings fahren eigens Shuttle-Busse durch die ehemals wilde Einsamkeit.

In unseren Berichten weisen wir auf besondere Orte hin, machen aber nicht unkritisch Schönwetter

Wie reagieren wir im Reiseteil auf solche veränderten Reisegewohnheiten? Mit kritischen Berichten statt Bewertungsdaumen, mit Blicken hinter die Kulissen statt Likes. Wir reden mit den Einheimischen, ordnen ein, geben Tipps und reflektieren die Auswirkungen des Reisens an sich. Damit folgen wir einer langen Tradition.

Der erste Reiseteil bestand aus zwei Seiten mit drei Schwarz-Weiß-Fotos, die jeweils eine Kirche zeigten. Der Aufmacher handelte von einer Fahrt "Zwischen Allgäu und Bodensee". Der Autor war mit Gedanken schon woanders, schwärmte frei nach Goethe von Italien: "Unser Heimweh nach dem Süden wird vorerst nicht gestillt. Noch sind, außer für ein paar Glückliche, die Grenzen zu jenem Lande verschlossen, wo im dunklen Laub die Goldorangen glühn."

Nur zwölf Jahre später, 1961, konnten die Deutschen massenweise Goldorangen pflücken. Und am Strand liegen: Am Adria-Abschnitt zwischen Cattolica und Milano Marittima waren 3000 Hotels mit 100 000 Betten hochgezogen worden. Die SZ-Reporterin kritisierte "gesichtslose Badeorte" und "Hotelkolonien". Der Urlaub finde "ohne viel Hintergrund einheimischen Lebens" statt, dafür mit Sauerkraut und Strammer Max auf den Speisekarten der Restaurants. Damals wie heute weist der Reiseteil auf die besondere Schönheit von Destinationen hin und hilft Leserinnen und Lesern beim Entdecken, macht aber nicht unkritisch Schönwetter.

Aus dem Modewort der Siebzigerjahre "Luftsprung" ist inzwischen die "Flugscham" geworden

Wer Geld hatte, flog schon in den Sechzigerjahren an exklusive Badeziele wie Tunesien, Marokko oder Ägypten. Die Propellermaschinen brauchten sieben Stunden von München nach Kairo - doppelt so lange wie heutige Passagierjets. Aber damals galt das als schnell. Eines der Modeworte hieß "Luftsprung". Heute ist eher die Rede von Flugscham.

Davon war im vergangenen Sommer allerdings nichts zu spüren. An den Flughäfen reichte das Personal nicht aus, den Ansturm der Urlauber zu bewältigen. Freizeitforscher sehen darin einen Nachholeffekt. Längerfristig jedoch werde sich der Gedanke der Nachhaltigkeit durchsetzen, der mehr sei als eine Mode, sondern der wachsende Wunsch der Urlauber, ihre Reise möge schonender für die Umwelt sein und ökonomisch so fair, dass auch das Zimmermädchen im gebuchten Hotel von ihrer Arbeit leben kann.

Gemessen am Interesse an unseren Inhalten lässt sich der grüne Trend bestätigen: Geschichten über exotische Fernreisen sind weniger gefragt als Berichte über klassische Urlaubsländer rund ums Mittelmeer oder das Wandern und Radfahren in Deutschland. Auch Zugreisen in Städte sind bei unseren Leserinnen und Lesern beliebt, Tipps für ausgefallene Hotels inklusive. Dazu Hintergründe: Was ist dran an CO₂-Kompensation, klimaneutralen Hotels und Kreuzfahrtschiffen, die mit Batterien fahren können?

Wir werden es beobachten. Wir werden berichten. Und dabei trotzdem immer auch ein bisschen träumen.

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