Theaterkritik:Sehen, was gut war

Umgebaute Sitzreihen zur Einhaltung der Abstandsregeln im Berliner Ensemble, aufgenommen in Berlin, 28.05.2020. Aufgrund

Blick von der Theaterbühne (Symbolbild)

(Foto: Florian Gaertner/imago images; Bearbeitung SZ)

Als Journalistin, die sich mit Schauspielerei und Theater beschäftigt, hat man es nicht ganz einfach. Über eitle Kritiker, Sekt in der Pause und die Liebe zur Kunst.

Von Christiane Lutz

Um gleich ein paar Fragen vorwegzunehmen: Eingeschlafen im Theater bin ich noch nie. Sekt in der Pause trinke ich nur, wenn es unbedingt sein muss. Mit Schauspielern darf ich privat befreundet sein. Für die Pressereferentin statt für die Kritikerin wurde ich wirklich selten gehalten. Und nein, selbst Schauspielerin wollte ich nie werden. Und ja, es kommt vor, dass auch ich keinen blassen Schimmer habe, warum der eine Schauspieler ein Hasenkostüm trägt/auf der Bühne alles in Frischhaltefolie gewickelt ist/im zweiten Teil plötzlich auf Sanskrit gesungen wurde. Der einzige Unterschied zu anderen Zuschauern, die dann eben schulterzuckend nach Hause gehen, ist, dass ich das schlüssig aufschreiben muss. Und irgendwie geht das dann auch immer.

Es gibt Kollegen, die mir verklärt zulächeln, wenn ich mit einem Programmheft aus den Kammerspielen in der Hand morgens um 10 Uhr ins Büro komme, weil am Vorabend Premiere war. Sie glauben, es muss das Paradies sein, beruflich zu machen, wofür andere sich am Samstagabend schick anziehen und Wochen vorher Karten kaufen. Glamourös, inspirierend, aufregend. Ähnlich freundlichen Neid erfährt meines Wissens nur der Kollege, der über Essen schreibt.

Und sie haben ja recht. Ich habe in den vergangenen Jahren sehr, sehr, sehr viel mehr Theaterstücke live gesehen als Bücher gelesen oder Filme gesehen. Ich komme in ausverkaufte Premieren und habe meist sehr gute Plätze, wobei selbst ich nicht vor der obligatorisch überparfümierten Frau geschützt bin. Ich darf mir diese Zauberkästen von Theatern backstage anschauen und zusehen, wie man Theaterblut anrührt oder Wunden schminkt. Ich treffe spannende Künstler. Klar, das sind meist keine Prominenten, die es in die Gala schaffen würden, aber wer Theater mag, weiß schon, wer Brigitte Hobmeier, Bibiana Beglau, Franz Rogowski, Sophie Rois, Fritzi Haberlandt oder Juliane Köhler sind. Ich habe auch mal Daniel Radcliff in Dachau interviewt. Das hatte zwar nichts mit Theater zu tun, ich will es trotzdem erwähnt haben.

Vor einigen Jahren begleitete ich in Bayreuth die Proben zu "Tristan und Isolde" und habe heimlich ein paar Rattenfüße aus Gummi anprobiert, die da für eine andere Inszenierung herumlagen. Ich war dabei, als Matthias Lilienthal in München als Intendant der Kammerspiele erst herbeigefeiert wurde, dann in der Gunst vieler gestürzt ist und sich wieder berappelt hat. Unzählige Male begrüßte er mich vor dem Theater, "Na, Christiane?", immer an einem der vulgär dicken Autos lehnend, die auf der Maximilianstraße geparkt sind. Ich war auch monatelang immer wieder in Oberammergau, um die Proben für die weltberühmten Passionsspiele zu besuchen, ein riesiges Theaterprojekt, das aber wegen Corona verschoben werden musste.

Manche Gespräche bleiben besonders hängen. Etwa das mit Samuel Koch, der seit seinem Unfall bei "Wetten, dass..?" vor zehn Jahren nicht mehr gehen kann. Er war wahnsinnig gelenkig und fit, ein Turner. Und zu der Zeit auch auf der Schauspielschule. Er beendete die Ausbildung dann nach dem Unfall, im Rollstuhl. Ich traf ihn für ein Interview in Darmstadt am Staatstheater, wo er 2015 im Ensemble war. Er amüsierte sich sehr über die Unbeweglichkeit und Schwerfälligkeit vieler Kollegen auf der Bühne, während er sich selbst beim Essen eines Salates helfen lassen musste.

Ich bin zufällig Kritikerin geworden. Ich mochte das Theater immer, fand aber auch vieles unsympathisch an den hierarchischen Strukturen der Häuser, manches künstlerische Gebaren affektiert. Ich hatte Sorge, dass es mir fad werden könnte, ständig ins Theater zu müssen, dass ich abgebrüht, schlimmer, dass ich zynisch würde. Als aber bei der SZ Bedarf an entsprechender Stelle war, ließ ich mich ein. Ich bezeichne mich allerdings ungern als "Theaterkritikerin", zumindest nicht ausschließlich. Ich bin Journalistin, die sich mit der Kunst des Theaters beschäftigt. Ich schreibe aber auch über Streit an Theatern, über Strukturen, Zuschauer, über Neubauten wie aktuell den des Münchner Volkstheaters, schreibe darüber, was das alles für einen Haufen Geld kostet. Schließlich fließen jährlich mehrere Millionen Euro Steuergelder in Stadt- und Staatstheater. Ich schreibe oft, vor allem in den vergangenen Monaten, über Kulturpolitik. Und ich schreibe eben auch Kritiken.

Das klingt vielleicht kitschig, aber ich glaube an eine dienende, uneitle Kritik und sehe mich als eine Art Brückenbauerin zwischen Kunst und Lesern. "Die Kunst ist dazu da, unser Denken zu befreien, und die Aufgabe der Kritik ist es, herauszufinden, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollen", schreibt der Filmkritiker A. O. Scott in seinem sehr unterhaltsamen Buch "Kritik üben". Ich finde, er hat recht.

Zum einen, weil es in der Natur des Menschen liegt, Dinge zu bewerten. Selbst Gott, schreibt Scott, war schließlich ein Kritiker. Er betrachtete die Welt, nachdem er sie erschaffen hatte, "und sah, dass es gut war". Zum anderen, weil ich es heute, wo jeder seine Meinung zu allem in die Welt bläst, wichtig finde, dass sich Menschen die Mühe machen, Dinge einzuordnen. Es geht nicht darum zu zeigen, was ich alles Tolles weiß, und dass ich den total angesagten Schauspieler schon im letzten Jahrhundert entdeckt habe. Kritik heißt auch nicht, eine Inszenierung nur auf gut und schlecht abzuklopfen, sondern zu überlegen, was sie über die Gegenwart sagt. Warum wollen jetzt alle Saša Stanišićs "Herkunft" für die Bühne adaptieren? Warum ist Regisseurin Leonie Böhm so erfolgreich, die Klassiker auf ein, zwei Themen reduziert und dann feministisch inszeniert? Sind Mikroports auf der Bühne der Untergang des Abendlandes? Und klar, man sollte schon Stellung beziehen, ob das künstlerische Vorhaben geglückt ist oder nicht. Mut zum Urteil haben. Was aber gleichzeitig heißt, dass eine Kritik, so gut sie auch begründet ist, am Ende immer subjektiv ist. Das müssen alle aushalten. Aber das macht es so spannend.

Theaterkritik ist ungeheuer aufwendig. Man muss physisch anwesend sein zu einer Uhrzeit, die man sich nicht ausgesucht hat. Hinfahren, heimfahren, dauert alles ewig. Vorzugsweise abends und am Wochenende. Daher muss man pragmatisch sein. Für viele meiner Bekannten ist Theater ein Ereignis. Wenn sie mich begleiten, wollen sie sich schick machen, sich Stunden vorher treffen, um was zu essen, und sie wollen ständig Sekt trinken. Machte ich da mit, ich wäre vier Tage in der Woche betrunken. Für gewöhnlich stolpere ich nämlich nach einem normalen Arbeitstag kurz zu Hause vorbei, belegtes Brot rein, Lippenstift rauf und wieder los. Den Durch-den-Wind-Look beobachte ich auch an vielen Kollegen. Es wird in dem Job außerdem viel in theaternahen Lokalitäten mit pfiffigen Namen wie "Kulisse" oder "Fundus" herumgehangen und überteuerte Oliven gegessen, um die Pause rumzukriegen. Mäßig glamourös. Meine ideale Theaterbegleitung taucht daher fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn auf und ist fünf Minuten nach Vorstellungsende wieder weg. Man hat ja auch noch ein Leben.

Das Mitschreiben während der Vorstellung ist dann gar nicht so wichtig. Auch wenn alle immer so tun. Ich auch. Wehe, der Kritiker neben mir schreibt mehr mit als ich, da gerate ich in Panik. Ich habe inzwischen sogar bevorzugte Notizbücher (DIN A6 mit Spirale), die ich selbst kaufe, obwohl es in der Redaktion welche umsonst gibt. Weil es aber oft so finster ist im Theater, dass man beim Schreiben die eigene Hand nicht sieht, findet man am nächsten Tag ohnehin oft nur wabernde, sich überlagernde Buchstabenwürste, wo eigentlich tiefsinnige Gedanken zu Elfriede Jelinek stehen sollten. Einmal rutschte mir beim Schlussapplaus an den Kammerspielen das Büchlein zwischen Polstersitz und Armlehne. Ich bemerkte das erst am nächsten Tag. Panisch rief ich im Theater an, man barg das Büchlein, ein Freund brachte es mir ins Büro. Gebraucht hätte ich es nicht, meist ist alles im Kopf, was ich sagen will. Man notiert es nur, um es sich gemerkt zu haben.

Dann der Applaus. Es gibt Kritiker, die grundsätzlich nicht oder höchstens lustlos applaudieren. Der Nicht-Applaus ist für sie Demonstration ihrer Sonderrolle. Angenommen, ein Kritiker klatscht wild und schreibt danach eine schlechte Kritik, dann würde das ja alle verwirren. Ich halte es genau andersrum, applaudiere grundsätzlich immer. Aus Respekt vor den Menschen, die da live vor mir auf der Bühne stehen und sich einen abgearbeitet haben, egal, wie gut oder schlecht das war.

Es ist ein wenig unheimlich, aber noch immer so, dass eine gute Kritik Zuschauerzahlen beeinflussen kann. Eine schlechte auch. Kritik ist Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit brauchen kleine Theater als eine Art Relevanzbeleg und große Theater als Dokumentation ihres Schaffens, als Debattenbeitrag. Es ist immer seltsam, durch die Theater-Büros zu gehen und eigene Texte ausgeschnitten an großen Pinnwänden hängen zu sehen. Es erinnert mich aber daran, dass das wirklich Leute lesen, was ich schreibe. Und daran, dass es eine Verantwortung ist, zu kritisieren. Ich habe einmal einen Regisseur nach einer missglückten Kritik angerufen und mich entschuldigt. Er war verdutzt, aber ich glaube, er hat mir verziehen.

Was ich nämlich wirklich albern finde, ist selbstgerechte Kritik, die sich aufplustert vor Institutionen, vor Lesern und, ganz wichtig, vor anderen Kritikern. Der Sketch "Filmspektrum" von Loriot ist zwar schon älter, aber da ist alles drin, was man Kritikern an Eitelkeiten unterstellt. Darin streiten sich zwei schlecht gelaunte Kritiker über die Deutung eines etwa viersekündigen Clips, in dem ein Mann zu heiterer Musik aus einer Mülltonne fällt. "Haben Sie bemerkt, wie kurz der Film ist?", fragt der eine. "Nein", sagt der andere, nur, um zu widersprechen. Oder der wütende Opernkritiker aus "Monaco Franze", der seinen Verriss der "Walküre" per Telefon in die Redaktion schreit. Der Opern-ahnungslose Franz hört mit und sprengt später seine bildungsbürgerliche Tischgesellschaft mit dem Satz: "Ein rechter Scheißdreck war's, altmodisch bis provinziell war's, das war's". Weil es aber am nächsten Tag genauso in der Zeitung steht, hat er im Nachhinein plötzlich recht.

Manchmal erreichen mich beleidigte Leserbriefe, aus denen weniger die Kritik an meiner Kritik spricht, sondern mehr die wilde Entschlossenheit, sich "einen schönen Abend nicht kaputt machen" zu lassen, ich hätte "keine Ahnung". Klar, hinterher erklärt zu bekommen, warum es ein rechter Scheißdreck war, für den man 100 Euro ausgegeben hat, tut immer weh. Ich ermutige die Leserbriefschreiber dann immer, sich den Abend bloß nicht von mir ruinieren zu lassen, denn vermutlich hätte ich wirklich keine Ahnung.

Man sieht auch viel Schlechtes. Am schlimmsten ist, wenn Theater so ist, wie es sich Leute vorstellen, die keine Ahnung von Theater haben. Ich erinnere mich an eine Performance, bei der sich ein paar Menschen zu experimenteller Trommelmusik in Bier gewälzt und sich nebenbei betrunken haben. Man konnte gehen, wann man wollte. Nach zweidreiviertel Stunden auf einer Bierkiste sitzend habe ich dann von dem Angebot Gebrauch gemacht. Aber sich aufregen gehört ja auch zum Berufsprofil. Denn wo viel Liebe ist, ist viel Platz für Enttäuschung. Ich kenne einen Kritiker, der, obwohl er genau weiß, dass er einen bestimmten Regisseur nicht mag, trotzdem in alle seine Inszenierungen geht, nur, um sich hinterher darüber aufzuregen.

Zum Job gehört auch Kulturberatung. "Was muss man im Theater gesehen haben?", fragen Freunde und Kollegen oft. Ich habe längst maßgeschneiderte Tipps parat: für den Familienvater, bei dem kein Stück länger als 90 Minuten dauern darf, weil der Babysitter zu Hause wartet; für den Kollegen, der "mal wieder was Kulturelles machen" will - um mal was Kulturelles zu machen; für die Freundin, die auch nicht vor mühsamen Adaptionen französischer Romane zurückschreckt. Und, klar, für die Eltern all meiner Freunde beim München-Besuch, die Theater schon mögen, aber bitteschön nicht zu wild und nichts mit nackt.

Zurzeit ist das mit den Empfehlungen natürlich schwierig, weil Corona auch im Theater alles durcheinandergebracht hat. Viele tolle Inszenierungen konnten nicht mehr gespielt werden. Etwa das zehnstündige "Dionysos Stadt" an den Münchner Kammerspielen, das wohl für immer verloren ist. Monatelang waren die Theater leer, jetzt dürfen immerhin wieder Zuschauer rein. Ins Residenztheater, das Platz für 800 hat, gerade mal 200 Menschen. In der Zeit dazwischen wurde wahnsinnig viel gestreamt, Schauspieler rezitierten Georg Büchner aus Theatergarderoben, andere präsentierten sensible Monologe, die Häuser kramten steinalte Inszenierungen aus und stellten sie online. Kurz: Es war fürchterlich. Ende September dann ging es wieder los, am Münchner Residenztheater inszenierte Ulrich Rasche "Das Erdbeben in Chili", einen Text von Kleist, in dem es um ein Erdbeben, aber vor allem um einen wildgewordenen Mob geht, der ein Liebespaar mit Keulen umbringt. Dunkel, düster, laut, großartig. Tage vor der Premiere entdeckte ich in mir ein seltsames Gefühl der Vorfreude. Ich zog mich schick an und war schon eine halbe Stunde vor Beginn im Theater. Und nach der Vorstellung wollte ich unbedingt einen Gin Tonic.

Zur SZ-Startseite
75 Jahre SZ Video Marlene Teil 504:05
04:05

75 Jahre SZ
:Wie wird man Auslandskorrespondentin?

Redakteurinnen und Autoren der SZ antworten auf Fragen von Leserinnen und Lesern.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: