SZ-Werkstatt:Schlaflos im Brexit

Korrespondentin Cathrin Kahlweit über nervige Deadlines, die dann doch keine sind, Träume mit Theresa May und Backstops aller Art, und dem Eingeständnis, diese sehr spannende Zeit in London durchaus zu genießen.

Der Brexit nervt. Weniger die Briten, die sind eher wütend, erschöpft, enttäuscht, aggressiv oder traurig. Genervt sind (nicht nur in Brüssel) die Europäer, die sich wahlweise sehr über die Briten wundern oder sich kopfschüttelnd abwenden. Ich wiederum schreibe seit knapp zwei Jahren über den Brexit, ich lebe und atme und schlafe sozusagen Brexit; meine Tage beginnen morgens um halb sieben mit den Nachrichten und enden selten vor elf Uhr nachts, wenn das Parlament sich denn mal eine Pause gönnt. Nachts träume ich von Theresa May, und meinen Mann spreche ich manchmal mit "Boris" an. Für private Themen bleibt wenig Zeit, und es gibt Tage, an denen sitze auch ich entnervt an meinem Schreibtisch, habe gerade das hundertste Mal in einem Artikel den Backstop erklärt, und brülle dann meinen Computer an, der auch nichts dafür kann: "Wer gibt mir die Lebenszeit zurück, die mir der Brexit raubt?" Je länger sich das Drama hinzieht, desto größer wird auch das Mitleid in der Heimat: "Du Arme, dass du das noch aushältst ..."

Aber: Der Job inmitten dieses Irrsinns ist immer noch faszinierend. Das Personal ist nicht immer intellektuell brillant oder seriös, aber das macht die Psychologie der Brexit-Politik nur umso interessanter. Denn das demokratische Experiment, dem sich die Briten in Tateinheit mit der Europäischen Kommission unterziehen, ist eine komplexe und umfassende Lehrstunde in Partizipation, Meinungsbildung und Kompromisssuche. Die Irrungen und Wirrungen dieses Prozesses führen zurück in die Geschichte Britanniens und weisen in die Zukunft Europas. Das Ringen der vier Nationen - Engländer, Schotten, Waliser, Nordiren (oder, wie Sinn Féin sagen würde, der Iren) - um Einheit oder Unabhängigkeit ist in seiner Ambivalenz spannend, weil es mit einem neu erwachenden englischen Nationalismus einhergeht. Allein die Geschichte (Nord-)Irlands mit Bürgerkrieg, Karfreitagsabkommen und EU-Integration wäre hundert Berichte wert.

Der Streit um den Brexit sollte bald ein Ende haben. Aber ich gestehe: Ich habe, rein professionell natürlich, bisher (fast) jede Minute genossen.

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