Süddeutsche Zeitung

SZ-Werkstatt:Macht der Muttersprache

Wie kommen Emotionen am aufrichtigsten rüber? Die SZ-Außenpolitikredakteurin Dunja Ramadan berichtet über ihre Erfahrungen mit Interviews.

Von Dunja Ramadan

Oft sind es minimale Bedeutungsnuancen, die etwas austauschbar oder einprägsam klingen lassen. So sagte der amerikanische Schauspieler Eddie Constantine einst, man könne noch so viele Fremdsprachen beherrschen - doch wenn man sich beim Rasieren schneide, dann gebrauche man die Muttersprache. Alle emotionalen Nuancen in eine Fremdsprache zu übertragen geht nicht. Dabei sind es genau jene Feinheiten, die man fühlt, aber nicht immer eins zu eins übersetzen kann, die den Unterschied machen.

Wenn Interviewpartner merken, dass ihr Gegenüber ihre Muttersprache spricht, geschieht in wenigen Sekunden eine regelrechte Metamorphose: Sie machen Wortwitze, spielen auf kulturelle Eigenheiten an, werden emotional, reden sich in Rage - und was dabei besonders wertvoll ist: Sie lassen Nähe zu. Mit einer Kinderbraut und Beduinin über Vergewaltigung in der Ehe zu sprechen, wäre mit einem Übersetzer undenkbar.

Ein libanesischer Flüchtling, der in seiner Heimat wegen seiner Homosexualität misshandelt wurde und heute in Köln lebt, erzählte seine Geschichte vor der Kamera einmal auf Englisch und einmal auf Arabisch. Ich übersetzte damals die arabische Version ins Deutsche und bekam die englische Version erst Wochen später zu sehen. In der englischen Version wirkte es, als würde er die Geschichte eines anderen erzählen. In der arabischen Version begann er während des Interviews zu weinen. Seine Sätze wurden länger und ehrlicher. Auf die abschließende Frage, ob ihm seine Heimat fehle, verneinte er und sagte, er habe damals vor allem sich selbst vermisst, Ibrahim, der Pläne schmiede und das Leben liebe. Er hielt kurz inne, schluckte und sagte dann mit Tränen in den Augen: "Ich vermute, in Deutschland habe ich ihn wiedergefunden."

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Quelle:
SZ vom 22.07.2017
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