Süddeutsche Zeitung

SZ-Werkstatt:Begegnung im Zug

Wiebke Ramm sitzt an jedem Verhandlungstag für die SZ im Münchner NSU-Prozess. Der lässt sie auch bei der Heimfahrt nicht los.

Von Wiebke Ramm

Beate Zschäpe mag AC/DC, liebt Thüringer Bratwurst, spricht schlechtes Englisch. Seit vier Jahren und drei Monaten sitze ich Woche für Woche mit der mutmaßlichen NSU-Terroristin im selben Gerichtssaal. Ich habe ihre Mutter, ihren Cousin, ihre Neonazi-Freunde kennengelernt. Ich weiß, wie sie in Briefen flirtet, weiß, wie sie ins Leere starrt, wenn vor Gericht die Grausamkeiten der rassistischen Mordserie im Detail geschildert werden. Seit vier Jahren und drei Monaten dreht sich in meinem Berufsleben alles um Beate Zschäpe. Fremd ist sie mir trotzdem geblieben.

"Vier Jahre und drei Monate denselben Prozess zu verfolgen - wird das nicht langweilig?", werde ich manchmal gefragt. Die Wahrheit ist: Der Prozess ist anstrengend, aber langweilig ist er nicht. Ich habe schon viele Gerichtsverhandlungen verfolgt, aber in keiner anderen Verhandlung ist so viel Unerwartetes, ja Unvorstellbares passiert wie in dieser: Ein Anwalt sitzt über Jahre im Prozess für ein NSU-Opfer, das es gar nicht gibt; ein Zschäpe-Psychiater verschickt Pressemitteilungen; ein Verteidiger beantragt, den Pfleger von Adolf Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß als Zeugen zu hören.

Journalisten sind es gewohnt, auf Unerwartetes gelassen zu reagieren. Das klappt nicht immer. Als Zschäpes Mitangeklagter Holger G. im ICE plötzlich vor mir steht, erschrecken wir beide. Holger G. war ein enger Freund von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt. Er lieferte dem NSU eine Waffe. Im Zug verschüttet er fast seinen Kaffee, als er mich sieht. Es war unsere erste Zugbegegnung, unzählige weitere folgten. Klar sprach ich ihn irgendwann an. Aber all meine Fragen will er mir leider nicht beantworten.

Vier Jahre und drei Monate - wann fällt endlich das Urteil im NSU-Prozess? Ehrlich gesagt: Niemand weiß es. Die wenigsten rechnen damit, dass die Plädoyers jetzt einfach reibungslos über die Bühne gehen. Dafür ist in diesem Prozess einfach schon zu viel Außergewöhnliches geschehen.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2017
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