Süddeutsche Zeitung

Systemrelevante Berufe:"Ich möchte keine Merci-Schokolade"

Bürger und Politiker loben zurzeit die Berufstätigen in der Daseinsvorsorge über Gebühr. Das reicht aber nicht. Leser fordern dauerhaft mehr Wertschätzung und mehr Lohn für Jobs, die direkt Menschen dienen.

Zu "Immer im Dienst", 24. März, und "Mein Job ist systemrelevant", 18. März:

Wirtschaft soll Menschen dienen

Seit Kurzem weiß ich, dass mein Beruf systemrelevant ist. Uih, bei solchen Attributen denke ich an gut bezahlte und mit besten Rahmenbedingungen ausgestattete Berufe. Weit gefehlt, ich bin Krankenpfleger. Wie viel ist unserer Gesellschaft ein systemrelevanter Beruf wert? Wenn ich mich bei der Bezahlung in der Pflegebranche umsehe, leider nicht viel. Ich arbeite seit 17 Jahren als Fachkrankenpfleger für Intensiv- und Anästhesiepflege hier in Freiburg. Und das richtig gerne.

Jedoch beobachte ich schon lange, dass durch marktradikale Politik Kliniken kaputt gespart werden, um Gewinne zu erzielen. Da wird an Märkte bis zum Mond geglaubt, aber geht es um große Verluste, werden die Rufe nach Verstaatlichung bestimmter Bereiche laut. Die Gesellschaft kann diese Verluste ja ruhig mittragen. Sollten Gewinne wieder anstehen, wird privatisiert. So werden wir sehenden Auges in die nächste Katastrophe schlittern.

Wer besitzt noch so viel Idealismus und möchte den an sich sehr schönen Beruf erlernen? Um das fehlende Personal zu kompensieren, werden Pflegekräfte aus dem Ausland rekrutiert, welche hier für wenig Geld unter anderem in privatisierten Kliniken arbeiten sollen. Diese Pflegekräfte fehlen in ihren Heimatländern.

Ich möchte keine Merci-Schokolade mehr! Wir benötigen in der Pflege eine angemessene Bezahlung durch gute Tarifverhandlungen und bessere Rahmenbedingungen durch die Einführung von Pflegekammern. Gesundheit gehört in die öffentliche Daseinsfürsorge und nicht in die Hände profitorientierter Konzerne, eben weil unser Gesundheitswesen systemrelevant ist. Die Wirtschaft soll dem Menschen dienen und nicht umgekehrt, jedoch befürchte ich wieder nur zustimmendes Schulterklopfen der politischen Entscheidungsträger, dass unsere Forderungen in der Pflege ja prinzipiell richtig seien, aber der Zeitpunkt falsch, mit Verweis auf die nach der Krise brach liegende Wirtschaft.

Alex Lepski, Freiburg/Opfingen

Daseinsvorsorge besser bezahlen

Es ist unglaublich, dass sich jetzt Politiker hinstellen und Berufsgruppen aufzählen, die bisher mit schlechter Bezahlung und miesen Arbeitsbedingungen abgespeist wurden. Warum werden Anwälte, Notare, Investmentbanker, Steuerberater oder sonstige Consultants im Vergleich zur Kindergärtnerin oder dem Krankenpfleger so exorbitant hoch bezahlt? Der Neoliberalismus hat für die Reichsten ein Paradies geschaffen, für die überwiegende Mehrheit (nämlich die, welche weniger Zinseinnahmen als konsumptive Ausgaben haben) dagegen vor allem Nachteile. Das muss nicht so weitergehen, das ist kein Naturgesetz!

Was wir brauchen, ist eine intakte Daseinsvorsorge und ein intaktes Miteinander der Menschen. Die Einrichtungen hierfür sind seit der "geistig-moralischen Wende" profitgierigen Konzernen in den Rachen geworfen worden. Dafür zahlen jetzt Menschen mit ihrem Leben. Es wäre gut, wenn wir alle wieder mehr den Blick für das Wesentliche schärfen: das Zusammenleben, eine intakte Umwelt und saubere Lebensmittel. Wenn viele Menschen einen Beitrag leisten, kann die Zukunft besser aussehen.

Stefan Bluemer, Essen

Auch Sozialberufe leisten mehr

In all den Dankes- und Lobreden der vergangenen Tage fallen regelmäßig Berufsgruppen unter den Tisch, die zum Teil ebenfalls unter vermehrtem Einsatz Menschen beraten und begleiten, etwa Personen mit psychischen Krisen oder Erkrankungen, suchtkranke Menschen, benachteiligte Jugendliche, körperlich und geistig Behinderte, wohnungslose Menschen ...

Unter anderem halten Sozialpädagogen, Psychologen, Erzieherinnen und Heilerziehungspflegerinnen 365 Tage im Jahr das psychosoziale Angebot an Beratungsstellen, Krisendiensten, ambulanten und stationären Wohnformen etc. aufrecht und sorgen dafür, dass hilfesuchende Menschen auch in Corona-Zeiten beraten, unterstützt und therapeutisch versorgt werden können. Auch bezüglich der Wertschätzung sozialer Arbeit braucht es einen Wandel. Gemeinwohlorientierte Leistungen haben Mehrwert für die Gesellschaft, diese sollten uns finanziell mehr wert sein!

Dipl.-Päd. Birgit Lutz, Dießen

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Quelle:
SZ vom 28.03.2020
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