Sprachlabor:Verstrahlt

Irrtümlich oder versehentlich? Sind beide Ausdrücke reine Synonyme oder gibt es doch einen kleinen Unterschied? Und darf man die Floskel "am Boden zerstört" guten Gewissens verwenden? Hermann Unterstöger klärt auf.

Von Hermann Unterstöger

VON DER FRAGE ZUM VORWURF ist es oft nur ein kurzer Weg. Leser G. geht zwar freundlicherweise über die Frage nicht hinaus, aber der Vorwurf ergibt sich stillschweigend. Herr G. findet, dass man den Abschuss des ukrainischen Flugzeugs in Iran nicht als versehentlich bezeichnen dürfe. Man müsse ihn irrtümlich nennen, da durch das Wort versehentlich die Opfer der Katastrophe verhöhnt würden. Bei uns hielten sich die zwei Ausdrücke die Waage, und eine Verhöhnung der Opfer liegt uns fern, grundsätzlich und auch im Hinblick darauf, was auf diesem Feld in jüngerer Zeit alles vorfiel. Ungeachtet dessen, dass irrtümlich und versehentlich im Alltag als Synonyme gelten, kann man G. insofern recht geben, als bei versehentlich ein Unterton von Schlamperei oder Gleichgültigkeit mitklingt, wohingegen irrtümlich sich anhört, als sei immerhin eine - freilich vergebliche - Gedankenarbeit vorausgegangen. Um es locker zu sagen: Es ist ein Versehen, die falsche Karte auszuspielen, aber ein Irrtum, beim Gegenspieler Trümpfe zu vermuten, die längst aus dem Spiel sind.

DAS WORT "ENTARTET" hat es vor den Nationalsozialisten schon gegeben, aber davon, dass diese es zum Kampfbegriff erhoben, wird es sich so schnell nicht erholen. Es ist verstrahlt, mit unbekannter Halbwertszeit. Leser K. erinnert vor diesem Hintergrund daran, dass auch die Floskel am Boden zerstört von der braunen Strahlung mehr abbekommen hat, als vielen geläufig ist. In den Wehrmachtberichten diente die Formulierung der Kunde, dass von den feindlichen Flugzeugen so und so viele gar nicht aufsteigen konnten, weil sie bereits auf dem Flugfeld zerstört worden waren. Wie es aussieht, muss am Boden zerstört nicht nur nicht in Quarantäne. Der forschen Redewendung scheint sogar etwas erfreulich Menschliches zugewachsen zu sein. Als Jean-Claude Juncker von Jacques Chiracs Tod erfuhr, war er "touché et dévasté". Das wurde auch auf Deutsch verbreitet, und zwar mit den Worten, Juncker sei "bewegt und am Boden zerstört" gewesen.

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