DAS GROSSE GANZE ist nicht Sache dieser auf Einzelheiten spezialisierten Kolumne, und insofern fasst sie auch die folgende Anfrage nur mit spitzen Fingern an. Leserin W. will wissen, was die „inflationäre Verwendung“ von tatsächlich zu bedeuten habe: Ob die Leute sich damit vor Fake News schützen wollten oder ob es nur noch Fakten gebe, aber keine Utopien mehr? In einem Punkt irrt Frau W. jedenfalls. Tatsächlich ist nicht plötzlich aufgetaucht. Der Ngram Viewer zeigt eine von 1900 an steil aufsteigende Kurve. Mit ihrer Verwunderung knüpft unsere Leserin aber an keinen Geringeren als Lessing an, der in seiner Schrift „Über das Wörtlein Tatsache“ von 1778 darüber staunte, „dass dieses neue Wörtlein ganz wider das gewöhnliche Schicksal neuer Wörter in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht hat“. Wie lang das Glück von tatsächlich anhält, wird man sehen. Allem Anschein nach erwächst dem Wörtlein, wo es als Ausdruck der Verblüffung – tatsächlich? – verwendet wird, in echt jetzt? eine Konkurrenz.
AUCH DER BAU von Sätzen folgt ökonomischen Prinzipien und verzichtet, wo es geht, auf die Wiederholung eigentlich notwendiger Wörter. Sagt zum Beispiel die Verkäuferin „Sonst noch was?“, spart sie sich das einleitende „Möchten Sie …“ und wird trotzdem tadellos verstanden. Auf eine Ellipse fraglicher Art ist Leser L. aufmerksam geworden. Er stieß bei uns auf „etwa 50 der mehr als 70 Millionen Thailänderinnen oder Thailänder“, die Geld vom Staat bekommen sollten, und fand, dass das Zahlsubstantiv Millionen schon bei „50“ hätte stehen müssen. Andernfalls frage er sich, „was die übrigen 69 999 950 dazu sagen“.
OFT UND OFT werden stilistische Extravaganzen kritisiert, obwohl sie per se legitim sind. Unser Leser Th. ärgerte sich über die Formulierung „lieblose Kost“ und kommentierte: „Welch ein sprachlicher Klops!“ Wie schon oft in solchen Fällen sei auch hier wieder auf das Stilmittel der Enallage verwiesen, für das gern diese Stelle aus Schwabs „Volksvernichtung“ zitiert wird: „Jetzt hast du dir schon wieder einen heimlichen Schnaps neben das aussichtslose Malwasser gestellt …“