Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Drachen statt Raute

Warum die sogenannte Merkel-Raute eine Falschbezeichnung ist und warum das Adjektiv episch mit einem Schmiergeldskandal aber schon gar nichts zu tun hat, erklärt Hermann Unterstöger.

Von Hermann Unterstöger

DIE JUSTIZ kennt das Prinzip "Falsa demonstratio non nocet", wonach bei Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille zu erforschen ist, man also nicht am Buchstaben haften darf. Dazu wird gern ein Mann angeführt, der wenig liest, aber einen reich bestückten, von ihm "meine Bibliothek" genannten Weinkeller hat. Vermacht er nun seinem Freund die "Bibliothek", so bekommt dieser nicht die paar Bücher, sondern all die guten Weine. Eine Falschbezeichnung besonderer Art geht seit Jahren um, nämlich die "Merkel-Raute", ein Name für Angela Merkels typische Handhaltung. Unser Leser Dr. H. weist wieder einmal darauf hin, dass man aus Daumen und Zeigefingern keine Raute formen könne, es sei denn, diese wären gleich lang. Was Merkel zeige, sei ein Drachen. Das ist richtig, doch sollten wir auch hier nicht am Buchstaben hängen, sondern uns an der geometrischen Figur erfreuen, egal, was Angela Merkel damit sagen will.

DIE "EPISCHE BREITE" ist uns allen gut bekannt, und im Grunde lieben wir sie nur da, wo sie hingehört: bei Epen. Völlig fehl am Platz war das Adjektiv episch bei einem von uns präsentierten "epischen Schmiergeldskandal". Für Leser W. stellt sich die Frage, wie der epische Schmiergeldskandal vom dramatischen und lyrischen abzugrenzen sei und ob episch in der Jugendsprache so etwas wie groß, beeindruckend bedeute. Nun, die Rheinische Post ist zwar kein Jugendblatt, aber anlässlich eines unerwarteten Fußballsiegs schrieb sie einst: "Ein epischer Moment." Gemeint war wohl, dass das Stoff für einen Homer oder Vergil sei.

"FÜR DUMM VERKAUFT" sieht sich Leser M., wenn ihm ein Gespräch als "ein Gespräch" vorgesetzt wird, ein Einwurf als "ein Einwurf", eine Spurensuche als "eine Spurensuche". Thomas Bernhard definierte seine Werke so: "ein Zerfall", "eine Entziehung" oder "eine Erregung". Derlei ist uns verwehrt, und das nicht nur aus literarischen Gründen. Ein Bedauern.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2015
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