Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Die Niederkunft

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Passend zur Jahreszeit beschäftigt sich Sprachlaborant Hermann Unterstöger dieses Mal mit dem Wort niederkommen - sei es nun bezogen auf den Heiland, seine Mutter oder ganz einfach auf einen herunterfallenden Ast.

Von Hermann Unterstöger

NACHTRAG ZU WEIHNACHTEN: Normalerweise hält man es jungen Kolleginnen und Kollegen vor, dass sie Wörter wie sintemalen, Pfründe oder Eidam falsch verwenden. Diesmal war es ein alter Hase, der von Leser S. darauf aufmerksam gemacht wurde, dass an Weihnachten nicht der Erlöser niederkommt, sondern dessen Mutter Maria. Das stimmt, und zwar, wie Herr S. korrekt anmerkt, "nach allgemeinem Sprachgebrauch". Jenseits dieses Gebrauchs lässt sich aber sehr wohl darüber reden, dass der Erlöser (her)niedergekommen ist und dass die Niederkunft ein Euphemismus ist, der auch im Fall von Maria und Jesus ohne Schaden durch Entbindung ersetzt werden darf.

UM IN DER SPUR ZU BLEIBEN, so ist ein anderer Kollege ebenfalls niedergekommen, und zwar, bezogen auf den Rausch, mit der Wendung "Rechtfertigung zum Ausschweif". Unser Leser Dr. S. war davon so beflügelt, dass er den Ausschweif als das maskuline Gegenstück zur Ausschweifung begrüßte, mithin als Akt der Gleichberechtigung des Mannes. Das indes steht im weiten Feld. Bis dahin bleibt der Ausschweif, was er bei Grimm ist: ein Umweg, eine Abschweifung. In diesem Sinn verwendet ihn Lessing in der "Hamburgischen Dramaturgie": "... man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif."

NIEDERKOMMEN, DIE DRITTE: Kommt ein Ast von einem Baum hernieder, kann man auch sagen: er bricht herunter. Jahrhundertelang stand das Verb herunterbrechen für diesen Vorgang, und mit Ausnahme dessen, den der Ast traf, fuhren alle gut damit. Dann wuchs dem Wort ein neuer Sinn zu: dass man etwas allgemein Gefasstes auf einen konkreten Fall überträgt. Ungeachtet der rauschenden Karriere dieses Ausdrucks darf man ihn, so Leser M., nicht verkehrt herum verwenden: dass ein individuell ergangenes Urteil auf die Allgemeinheit herunterzubrechen sei. Man könnte es allenfalls hinaufbrechen, doch wäre das so närrisch, als wollte man besagten Ast wieder hinaufbrechen.

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Quelle:
SZ vom 05.01.2019
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