Sprachlabor:Das gute alte Gutachten

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(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

Bloß weil es jetzt oft Expertise heißt, steht nicht mehr oder weniger Wissen zu einem Thema zur Verfügung. Auch anderes Fachchinesisch wird in dieser Kolumne schnell entlarvt.

Von Hermann Unterstöger

DASS LESER SICH BRIEFLICH in Taumel reden, kommt selten vor. Leser R. widerfuhr dies unlängst. In seiner Mail wimmelte es von No-Go, committen, am Ende des Tages, proaktiv und was es sonst noch an sprachlichem Dekoschrott gibt. Und warum? Weil er auf das traurige Schicksal der Expertise aufmerksam machen wollte. Generationen haben damit gelebt, dass eine Expertise nichts anderes ist als das Gutachten eines Experten, beispielsweise darüber, dass der Dürersche "Hieronymus im Gehäus", den Sie auf dem Flohmarkt gekauft haben, schon insofern kein echter Dürer sein kann, als am Fensterbrett neben dem Totenkopf ein Kofferradio zu sehen ist. Es gibt keine Statistik, aber ein Blick in die Archive beweist, dass Expertise mittlerweile hauptsächlich als Synonym für Fachwissen, Erfahrung oder Kenntnisse, also falsch verwendet wird. Der Grund ist leicht zu finden: Das englische Wort für Fachkenntnisse, expertise, wird übernommen und konkurriert mit der guten alten Expertise. Erfolgreich? Sieht ganz danach aus.

DAS VERB "KONTEXTUALISIEREN" war für Leser R. so ein Rätsel, dass er fürchtete, mit seinen 88 Jahren nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein. Er wird nicht der einzige sein, der dieses Wort nicht kennt, wie ja überhaupt ein Großteil der Deutschen ohne es ganz gut durchs Leben kommt. Es schadet aber auch nicht zu wissen, dass Kontextualisierung, so der Linguist John J. Gumperz, "der Gebrauch" ist, "den Sprecher und Hörer von verbalen und nonverbalen Zeichen machen, um das, was zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort gesagt wird, mit Wissen, das durch vergangene Erfahrung erworben wurde, in Beziehung zu setzen". Mit einem Wort: über den Tellerrand hinausschauen!

JA NICHTS FALSCH MACHEN! Wie unser Leser W. im Kleingedruckten sah, rang sich das Amtsgericht München in einem Aufgebot zu dieser Formulierung durch: "Eingetragene Grundpfandrechtsgläubigerin: Frau Deutsche Bank AG, Filiale Esslingen."

© SZ vom 10.07.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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