Sprachlabor:Bissgurn

Sprachlabor: undefined

Die Volksetymologie hat sich schon manches Wort zurechtgebogen, man denke nur an den ständig zitierten Tollpatsch. Ein Leser hat ein ähnliches Exemplar aufgetan. Ein weiterer moniert eine zunehmende "Sogenanntitis" - nicht ganz zu Unrecht.

Von Hermann Unterstöger

DIE VOLKSETYMOLOGIE hat sich schon manches Wort zurechtgebogen, man denke nur an den zu Zeiten der Rechtschreibreform ständig zitierten Tollpatsch, der aus talpas, einem alten Necknamen für ungarische Infanteristen, hervorgegangen ist. Ähnlich seltsamer Herkunft ist die Bissgurn, die unser Leser Dr. W. kürzlich als Bissgurkn abgedruckt sah. Viele verstehen das Wort so, wie es die Nürnberger Zeitung einmal tat: "Das Wort könnte auf Hochdeutsch ,beißende Gurke' heißen." Könnte es nicht. Die vermeintliche Gurke ist nämlich ein Pferd, und zwar ein schlechtes Pferd, eine Gurre. Das wurde auf zänkische Frauen übertragen; eine Unterart von ihnen sind die Bissgurn.

ES GING ZWAR um ein Kohledeputat, aber da Deputate manchmal auch mit Essen zu tun haben, schlug dies voll durch: "Früher musste man die Kohlen mit dem ,Bello', dem großen Vorschlaghammer, klein machen, heute kommen sie in mundgerechten Stücken." Unser Leser Dr. S. dazu: "Guten Appetit!"

"SOGENANNTITIS." So lautet Leser W.s Diagnose für die Manie, nicht alltägliche Wörter dem Publikum dadurch schmackhaft zu machen, dass man ihnen das Täfelchen sogenannt umhängt: "sogenannte vertikale Absprachen", "der sogenannte Soldatenkaiser" und vieles mehr, dazu der Satz "Zwischen Signing und Closing befinden wir uns in einer sogenannten Quiet Period", der nicht von uns stammt, sondern zitiert wurde, dies freilich in entlarvender Absicht. Herr W. hält das Täfelchen für überflüssig. In der Tat: Wenn die vertikalen Absprachen vertikale Absprachen heißen, werden sie auch so genannt, und man muss sich nicht mit sogenannt von ihnen spöttisch distanzieren. Dazu ein rühmliches Beispiel. Als die DDR noch "sogenannte DDR" hieß, wurde ein Foto veröffentlicht, das man so deuten konnte, als habe Walter Ulbricht unter dem Tisch die Hand auf Ludwig Erhards Knie. Sprechblase über Erhard: "Walter, nimm sofort deine sogenannte Hand da weg!"

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: