Süddeutsche Zeitung

Sprachlabor:Attacke mit Dativ

Wie man dudengerecht vors Schienbein tritt und wie vorzugehen ist, wenn ein Unglück nun eben nicht alleine daherkommt.

Von Hermann Unterstöger

WO ER RECHT HAT, unser Leser Dr. L., da hat er recht: Ein Zugriff wird nicht erstattet, sondern gestattet, Rezepte werden nicht ins Grab eingemeißelt, sondern allenfalls in den Grabstein, und was das Kleeblatt angeht, so ist es keine Pflanze, sondern Teil einer solchen. Nichtsdestoweniger kann auch Herr L. irren, zum Beispiel darin, dass es zu Unglück den Plural Unglücke nicht gebe. Schon der Duden von 1934 führt diesen Plural, allerdings mit der Markierung "selten", und diese Seltenheit scheint zur Wirkung zu kommen, wenn mit Unglücken mehrere katastrophale Ereignisse gemeint sind, etwa Zugunglücke. Dessen ungeachtet hat das Unbehagen Herrn L.s einen soliden Hintergrund. Als Zeuge sei Johann Christoph Adelung aufgerufen, der in seinem Wörterbuch von 1801 schreibt: "So sehr auch der Plural, wenn dieses Wort von einzelnen Umständen und Begebenheiten gebraucht wird, der Sache gemäß wäre, so ungewöhnlich ist er doch, so wohl hier, als bey dem Gegensatze Glück, wenn gleich Lessing sagt: Unglück über alle Unglücke!" Wo Lessing das sagt? Im 13. Auftritt seines Lustspiels "Der Schatz".

NICHT VÖLLIG RECHT hat auch unser Leser Sch., obwohl ihm grundsätzlich darin zuzustimmen ist, dass die Person, der man vor, auf, in oder gegen etwas tritt, bei dieser unangenehmen Prozedur im Dativ zu stehen habe. So schreibt Martin Luther in einem Sermon: "... der Teufel tritt mir auf den Hals, will mich unterdrücken." Bei uns war es nicht der Teufel, der irgendwohin trat, sondern Kinder, denen unterstellt wurde, dass sie "die Kellnerin vors Bein" treten, wogegen Herr Sch. ins Feld führt, dass der Akkusativ den Eindruck erwecke, hier werde die "vollständige" Kellnerin getreten und nicht nur ihr Bein. Dieser Drang aufs Ganze mag beim Teufel zutreffen, der ja traditionell auf den vollständigen Menschen aus ist. Die Kellnerin vors Bein treten ist zwar unbillig, aber grammatisch in Ordnung, mit der Einschränkung freilich, dass dieser Akkusativ ebenfalls als "selten" markiert ist.

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Quelle:
SZ vom 25.06.2022
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