Soziale Wende:An der SPD scheiden sich die Geister

Gehört Hartz IV abgeschafft zugunsten von länger laufendem Arbeitslosengeld? Die Lesermeinungen dazu gehen stark auseinander.

Zu Pro und Contra "Soziale Wende der SPD" vom 12. Februar sowie "Nie mehr Hartz IV" vom 9./10. Februar:

Für die Festplatte des Lebens

Der Versuch der SPD der Neujustierung wird scheitern. Der sicherlich vorhandene gute Wille steht der in den vergangenen 14 Jahren gewachsenen Wut der ehemaligen Stammwähler gegenüber. Die Wählerschaft der starken Geburtsjahrgänge der fünfziger und sechziger Jahre hat zu Beginn der Hartz-Wellen - es gab ja auch noch Hartz Reformen durchnummeriert von 1 bis 3 - in der besonders einkommensstarken Phase ihres Berufslebens gestanden. Die Euro-Einführung drei Jahre zuvor hat man gerade so verarbeitet. Die Gesundheitsreform von 2004 und die damit auf die Einzahlenden zukommenden Kosten wurden erst mal negiert. Es wurde ja endlich Jagd gemacht auf die Faulen im Lande. Das Erwachen kam dann nach der Finanzkrise. Waren die Lotsen Merkel und Steinbrück bemüht beziehungsweise haben es geschafft, den Untergang des Exportdampfers Deutschland zu verhindern; die Rettungskosten gingen zu Lasten unterer und mittlerer Einkommen.

Mit jedem Rentenscheid und jeder Nachricht der betrieblichen Altersversorgung dieser Wählerschaft wurde deutlich, was die SPD - als Erst- oder Zweitkraft in den zurückliegenden Koalitionen - initiiert oder stillschweigend mitgemacht hat.

Des Weiteren konnte man hautnah, bei eigenen Kindern, Verwandten, Freunden oder im Betrieb erleben, wie effektiv der Fahrstuhl Hartz IV funktioniert. Diese Erfahrung mit der sozialen Kompetenz der SPD ist auf der Festplatte des Lebens fest verankert.

Dietmar Heitmüller, Garbsen

Angst vor dem Stimmvieh

Der "tragische Konflikt" besteht vor allem darin, dass Menschen darüber berichten, die die Schreckenskammer der Gesellschaft namens "Hartz IV" nie betreten haben, wohingegen man Betroffene selbst kaum je zu Wort kommen lässt. Wer, bitte, ist "das Land", dem die Agenda 2010 "sensationellen Erfolg" brachte? Meint der Autor die Staatskasse, die für jede Art von Verschwendung offen ist, aber alleinerziehenden Müttern das Kindergeld klaut? Meint der Autor die seit und durch Hartz IV gewachsene Zahl der Millionäre? Und die "Katastrophe" haben zunächst einmal Millionen nach Abschaffung der "Arbeitslosenhilfe" zwangsverarmte BürgerInnen erlebt, bevor sie die SPD für die Zerstörung des Sozialstaats abgewatscht haben.

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"Die Qualität der Beratung in den Arbeitsagenturen wurden besser?" Wer hat dem Autor diese Fabel aus der Hartz-IV-Märchenkiste erzählt? Mit wie vielen Betroffenen hat der Autor gesprochen? Und was soll das abfällig hingeworfene "Versorgungsstaat"? Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es ein Recht auf Existenzminimum im Grundgesetz steht.

Die seit 2005 gesunkenen Arbeitslosenzahlen haben so wenig mit Hartz IV zu tun wie die Anzahl von Störchen mit der Babyquote; dies wurde von Wissenschaftlern wie Christoph Butterwegge vielfach belegt. Im Übrigen ist die Gleichsetzung von Hartz IV und arbeitslos so falsch wie diskriminierend. "Hartzer" sind vorrangig alleinerziehende Mütter, pflegende Angehörige, KünstlerInnen, freie Bühnen- und Medienschaffende, hart arbeitende aufstockende Niedrigentlohnte, chronisch Kranke. Die Rückkehr zu früher üblichen, längeren Bezugszeiten von Arbeitslosengeld ist überfällig, zum einen, weil gerade die Älteren auch lange eingezahlt haben; zum anderen, weil selbst tolle Jung-Karrieristen auf Bewerbungen oft erst nach fünf Monaten eine Antwort bekommen.

Dass die SPD nicht aus Menschlichkeit umdenkt, sondern aus Angst vor Stimmvieh-Verlusten, steht auf anderem Blatt. Wer vom Elfenbeinturm aus schreibt, sollte da runterkommen, um die Realität kennenzulernen. Ich stelle meine Hartz-IV-Akten 2009-2013 gerne zur Verfügung.

Bettina Kenter, Germering

Fehlende Bildung bringt Armut

In beiden Kommentaren sowie in der Debatte allgemein über Armut, Ungleichverteilung des Einkommens, ist mir nicht verständlich, wie wenig oder gar nichts über die Ursachen gesagt wird. Natürlich kommt Armut von Armut, um mit Fritz Reuter zu sprechen. Aber Transfers, im Umgangsdeutsch: "schnell mal mehr Knete" und das noch ohne Sanktionsmöglichkeit seitens des Steuerzahlers, der das Ganze finanziert, bringen auf die Dauer wenig. Es stellt die wesentlich gute Idee von Hartz IV, nämlich Fördern und Fordern, auf den Kopf und lässt die Grundursache der Bedürftigkeit total außer acht: die aus vielen Gründen vielleicht verständliche, aber dennoch verbreitete Unterqualifizierung.

In beiden Kommentaren wird diese mangelnde Berufsfähigkeit nicht mal erwähnt. Hier sollte der Angelpunkt einer "neuen" Sozialpolitik sein. Anstatt die Umverteilung wesentlich neu zu ordnen, sollte die Politik dafür sorgen, dass in der Schule dafür gesorgt wird, dass nicht derart viele Schwache ohne Schulabschluss, ohne Lehrabschluss wie gegenwärtig ins Berufsleben entlassen und damit zu Sozialhilfeempfängern bestimmt werden. Verbessert sich diese Situation, kann der Staat die unvermeidlichen Katastrophen des Lebens immer noch besser absichern.

Soziale Wende: SZ-Zeichnung: Karin Mihm

SZ-Zeichnung: Karin Mihm

Prof. em. Dr. Götz.Uebe, Ludwigslust

Groko setzt Zukunft aufs Spiel

Die Große Koalition ist dabei, Wohlstand und Entwicklungschancen mit sicher gut gemeinten aber nicht immer sinnvollen sozialen Wohltaten aufs Spiel zu setzen. Die SPD geht mit ihren neuen, kaum finanzierbaren und volkswirtschaftlich fragwürdigen Forderungen vom Wochenende noch darüber hinaus. Ob das die SPD retten wird? In den letzten zehn Jahren haben Bund, Länder und Kommunen gemeinsam weit über 100 Milliarden Euro an Steuergeldern zusätzlich vereinnahmt. Vergleichsweise wenig davon ist in Strukturverbesserungen (Bahn, Straßen Digitalisierung, Bildung, Forschung) geflossen, die sich langfristig für uns alle auszahlen. Bei schwächelndem Wirtschaftswachstum und geringeren Steuereinnahmen ist damit leider noch weniger zu rechnen. Wir gefährden das Wohlergehen künftiger Generationen. Vielleicht sollte es sich wieder stärker herumsprechen: günstige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung geben Raum für vernünftige Sozialpolitik. Sie sichern Arbeitsplätze und auf Dauer die Finanzierung der Sozialsysteme über Steuereinnahmen.

Dipl.-Volksw. Otto Dietrich Knapp, Fürth

Zurück zu den Ursprüngen

Die SPD brüstet sich damit, jetzt den Sozialstaat zu wollen und bricht mit den - wirtschaftlich erfolgreichen - Sozialgesetzen von Gerhard Schröder. Dabei handelt es sich um Aktionismus und Panik! Das Füllhorn auszuschütten und dann noch ohne Not und Notwendigkeit in einer Zeit, in der der eigene Finanzminister vor einem Ende der fetten Jahre warnt, grenzt an Selbstzerstörung. Die alte Dame SPD sollte sich an ihre Ursprünge vor mehr als 100 Jahren erinnern. Das Stichwort unter Ferdinand Lassalle hieß Bildung. Weder CDU/CSU (Ordnung), noch FDP (Freiheit) oder Grüne (Umwelt) habe sich dieses Themas wirklich angenommen. In einer globalisierten, digitalisierten und automatisierten Welt tut aber genau das Not.

Richard K. von Rheinbaben, Tutzing

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